sic! 2002 Ausgabe 3
Bericht der Schweizerischen Landesgruppe / Rapport du groupe Suisse*

Gegenwärtige Standards für Offenbarungen im Stand der Technik bei der Beurteilung der Voraussetzungen der Neuheit und der Erfindungshöhe (Q 167)

I.  Vorbemerkungen
II. Antworten
    1. Bestimmung des Standes der Technik
    2. Kriterien für die Offenbarung
    3. Offenbarung durch neue Medien
    4. Vorschläge für die zukünftige Harmonisierung
Zusammenfassung / Résume


I. Vorbemerkungen
Das schweizerische Patentgesetz ist bei der letzten Revision weitgehend an das Europäische Patentübereinkommen (und damit an das Strassburger Übereinkommen zur Vereinheitlichung gewisser Begriffe des materiellen Rechts der Erfindungspatente von 1963) angeglichen worden. Das materielle Recht für schweizerische Patente wird daher nicht nur von Entscheidungen der schweizerischen Gerichte, sondern auch von den Entscheidungen der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts beeinflusst, d.h. für die Beantwortung der hier gestellten Fragen müssen auch solche Entscheidungen berücksichtigt werden. Das für die Erteilung von schweizerischen Patenten zuständige Institut für Geistiges Eigentum (IGE) führt zwar eine Sachprüfung der Patentgesuche durch, es erfolgt jedoch keine Prüfung auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit mehr, so dass für die Beantwortung der hier gestellten Fragen fast nur Entscheidungen von schweizerischen Gerichten herangezogen werden können.

II. Antworten
1. Bestimmung des Standes der Technik
Wie der Titel der Frage zeigt, behandelt die Frage die Offenbarung im Stand der Technik. Das Ziel besteht nicht darin, spezifische Fragen zu behandeln, die aus der Offenbarung im Zusammenhang mit dem Schutzbereich oder mit Formalien der Patentanmeldung resultieren. Um Kriterien für die Offenbarung des Standes der Technik zu entwickeln, sollte zunächst festgestellt werden, welches die Hauptgrundsätze für das Verhältnis zwischen Offenbarung, Neuheit und Erfindungshöhe sind und wie sich diese in den verschiedenen nationalen Rechten widerspiegeln.

a) Welchen Effekt hat die Veröffentlichung eines Standes der Technik auf Neuheit und Erfindungshöhe? Gibt es Unterschiede zwischen dem Stand der Technik in Bezug auf Neuheit einerseits und Erfindungshöhe andererseits? Beeinflussen anhängige Anmeldungen, die noch nicht veröffentlicht sind, die Beurteilung von Neuheit und Erfindungshöhe?
«Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört» (Art. 7(1) PatG).«Was sich in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik (Art. 7) ergibt, ist keine patentfähige Erfindung» (Art. 1(2) PatG).
«Den Stand der Technik bildet alles, was vor dem Anmelde- oder dem Prioritätsdatum der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benützung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist» (Art. 7(2) PatG).
Die erstgenannten zwei Bestimmungen des schweizerischen Patentgesetzes definieren, in Verbindung mit der letzteren, den Zusammenhang zwischen Neuheit bzw. erfinderischer Tätigkeit und dem Stand der Technik. Technische Lehren, die der Öffentlichkeit irgendwann und irgendwo im Prinzip zugänglich geworden sind, sollen nicht Gegenstand eines Patentes sein. Eine naheliegende Änderung gegenüber dem bekannten Stand der Technik genügt nicht, um Patentfähigkeit zu erreichen.
Grundsätzlich ist der Begriff des Standes der Technik derselbe im Hinblick auf die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit. Dies folgt aus der expliziten Verbindung von Art. 1(2) mit Art. 7 PatG.
Allerdings beeinflussen auch «ältere Rechte» die Beurteilung der Neuheit, nicht aber der erfinderischen Tätigkeit. Die entsprechende Gesetzesbestimmung lautet: «Eine Erfindung gilt nicht als neu, wenn sie, obwohl sie nicht zum Stand der Technik gehört, Gegenstand eines gültigen Patentes ist, das auf Grund einer früheren oder einer prioritätsälteren Anmeldung für die Schweiz erteilt wurde» (Art. 7a PatG).
Zweck dieser Bestimmung ist es, eine Doppelpatentierung derselben Erfindung zu verhindern. Deshalb wirkt nach schweizerischem Recht die nicht veröffentlichte frühere Patentanmeldung nur mit ihren Patentansprüchen neuheitsschädlich («prior claims approach») und zudem nur, wenn sie zu einem gültigen Patent geführt hat1. Dies im Gegensatz zum europäischen Recht, wo für die Neuheitsprüfung der gesamte Inhalt der älteren Anmeldung als Stand der Technik gilt («whole contents approach»), wobei es bedeutungslos ist, ob die ältere Anmeldung zu einem gültigen Patent geführt hat (Art. 54(3),(4) EPÜ). Als «ältere Rechte» im Sinn von Art. 7a PatG gelten nationale schweizerische Patentanmeldungen, europäische Patentanmeldungen mit Benennung der Schweiz und internationale Patentanmeldungen mit Bestimmung der Schweiz – immer unter der Voraussetzung, dass sie zu einem in der Schweiz gültigen Patent geführt haben. Entgegen dem Wortlaut von Art. 7a PatG braucht das ältere Patent zum Zeitpunkt des Neuheitsangriffs auf das jüngere Patent nicht mehr in Kraft zu stehen2. Im Zusammenhang mit der vorgelegten Frage mag auch interessieren, dass das schweizerische Recht (Art. 7a PatG) die älteren Rechte ausdrücklich vom Stand der Technik ausschliesst und den Begriff der Neuheit modifiziert, während das europäische Recht (Art. 54(3) EPÜ) den Begriff des Standes der Technik auf ältere europäische Rechte ausdehnt.

b) Enthalten die nationalen Rechte Definitionen oder Hinweise darauf, worin eine Offenbarung des Standes der Technik besteht?
Gemäss Art. 7(2) PatG (siehe Teilfrage 1.1) bildet den Stand der Technik «alles» (d. h. alle Kenntnisse), «was vor dem Anmelde- oder dem Prioritätsdatum der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benützung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist.» Dabei spielt der Ort, die Sprache, der zeitliche Abstand zum Anmelde- oder Prioritätsdatum oder der Weg (Medium) der Offenbarung keine Rolle.

c) Welche Regeln werden angewandt, um zu beurteilen, ob ein bestimmter Stand der Technik offenbart worden ist?
Diese Frage zielt auf Richtlinien, die nicht schon in Gesetzen enthalten sind und die in den einzelnen Ländern zur Beurteilung einer Offenbarung entwickelt wurden.Da im schweizerischen Patenterteilungsverfahren keine Prüfung auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit erfolgt, sind in den «Richtlinien für die Sachprüfung der Patentgesuche» des Eidgenössischen Instituts für Geistiges Eigentum keine Regeln zur Beurteilung der Offenbarung zu finden. Im Folgenden wird eine Auswahl solcher Regeln präsentiert, die sich aus der schweizerischen Rechtsprechung ergeben3.
Massgeblich für die Interpretation eines Dokumentes des Standes der Technik ist das Anmelde- oder Prioritätsdatum4. Dies im Gegensatz zur europäischen Rechtsprechung5, wonach bei der Beurteilung der Neuheit zur Ermittlung des Offenbarungsgehalts nur das zum Publikationszeitpunkt des Dokumentes vorhandene allgemeine Fachwissen herangezogen werden kann6.
Bei der Beurteilung eines Standes der Technik ist sein Inhalt wesentlich, nicht eine wörtliche Übereinstimmung mit dem Patent, dem er entgegengehalten wird7. Handelt es sich beim Stand der Technik um eine Patentschrift, so ist sie gesamthaft als ein Sprachwerk zu betrachten, ohne besondere Hervorhebung ihrer Ansprüche.
Grundsätzlich gehören die Unterlagen erteilter schweizerischer Patente vom Moment der Erteilung an zum Stand der Technik, sofern sie von jenem Zeitpunkt an beim Patentamt frei zugänglich sind, auch wenn die Patentschrift noch nicht erschienen ist8. Dieser Grundsatz wurde allerdings in einer späteren Gerichtsentscheidung relativiert9.
Der Umstand, dass ein Stand der Technik aus einem anderen Fachgebiet stammt, schliesst seine Berücksichtigung für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht absolut aus, weil die vor die Aufgabe gestellte Fachperson einen Grund gehabt haben könnte, die Suche nach einer Lösung auf jenes Gebiet auszudehnen10. Aus diesem Grund betrachtet es die schweizerische AIPPI-Arbeitsgruppe als nicht zulässig, bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit einen Teil des Standes der Technik allein mit dem Argument «gattungsfremd» auszublenden.

2. Kriterien für die Offenbarung
Die Beurteilung einer Offenbarung muss verschiedene Kriterien berücksichtigen. Diese Kriterien umfassen das Medium der Information (schriftlich, mündlich oder auf andere Weise), den Zeitpunkt der Information (kürzlich oder vor einer langen Zeit), den Ort der Information (im Inland oder Ausland), die Person, die die Information offenbart (Anmelder eines gewerblichen Schutzrechts oder eine dritte Person) und den Empfänger der Information.

a) Wege der Offenbarung
In den Länderberichten sollte festgestellt werden, welche Art der Offenbarung Einfluss auf Neuheit und Erfindungshöhe hat. Insbesondere interessiert, ob die Offenbarung auf bestimmte Wege der Information beschränkt oder eher unbeschränkt ist. Dies schliesst mündliche Offenbarung ebenso ein wie neue Wege der Information, wie etwa das Internet, die auch im Zusammenhang mit der nächsten Frage behandelt werden.
Welches sind anerkannte Wege der Offenbarung? Gibt es zusätzliche Erfordernisse für bestimmte Arten der Offenbarung, wie mündliche Offenbarung oder die Offenbarung durch Benutzung im Vergleich zur Offenbarung durch schriftliche Dokumente? Was sind die Gründe, falls bestimmte Wege der Offenbarung durch Gesetz oder Praxis nicht anerkannt werden?
Gemäss Art. 7(2) PatG (siehe Teilfrage 1.a) kann die Offenbarung des Standes der Technik vor dem Anmelde- oder Prioritätstag
(i)    durch schriftliche Beschreibung,
(ii)   durch mündliche Beschreibung,
(iii)  durch (nicht geheime) Benützung oder
(iv)  in sonstiger Weise erfolgen.
Diese im Gesetz aufgezählten Wege der Offenbarung (i)-(iv) sind rechtlich gleichwertig. Faktisch bestehen jedoch Unterschiede in beweismässiger Hinsicht, denn ein datiertes veröffentlichtes Dokument (i) ist als Beweismittel im Allgemeinen weniger leicht in Frage zu stellen als bspw. eine Zeugenaussage (ii),(iii).
Die Wege der Offenbarung sind nach schweizerischem Recht nicht beschränkt. Durch die Formulierung «oder in sonstiger Weise» (iv) hat der schweizerische Gesetzgeber die Möglichkeit weiterer Wege der Offenbarung offen gelassen. Dies ist im Hinblick auf die neuen Medien (Teilfrage 3) von Interesse. Nach Ansicht der schweizerischen AIPPI-Arbeitsgruppe ist eine Veröffentlichung im Internet ein Spezialfall der schriftlichen Beschreibung (i) und gilt demnach als Offenbarung des Standes der Technik.

b) Zeit der Offenbarung
Macht es einen Unterschied, ob die Offenbarung erst kürzlich oder vor einer langen Zeit erfolgt ist? Gibt es Grenzen, jenseits derer die Veröffentlichung einer Information, obschon sie eine Offenbarung des Standes der Technik begründen könnte, nicht länger als relevant für die Beurteilung der Neuheit und der Erfindungshöhe angesehen wird? Es spielt keine Rolle, wie alt eine Offenbarung ist. Wenn sie vor dem Anmelde- oder Prioritätsdatum erfolgt ist, begründet sie einen Stand der Technik im Sinn von Art. 7(2) PatG. Trotzdem kann der Zeitpunkt der Offenbarung für die Beurteilung der Patentierbarkeit relevant sein, wie nachfolgend erklärt wird. Die Neuheit wird durch jede ältere identische Offenbarung zerstört, unabhängig vom Zeitpunkt der Offenbarung. Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit wird hingegen gemäss schweizerischer Rechtsprechung eine alte Veröffentlichung nicht berücksichtigt, wenn sie die Technik nicht beeinflusst hat, sondern seit Langem in Vergessenheit geraten ist11. Somit werden alte Veröffentlichungen etwas anders gewichtet als in der Rechtsprechung der Technischen Beschwerdekammern des Europäischen Patentamtes, gemäss welcher auch alte Dokumente für die Prüfung herangezogen werden, wobei allerdings ein grosser Zeitabstand zwischen der Veröffentlichung und dem Prioritätstag ein zusätzlicher Hinweis auf erfinderische Tätigkeit sein kann.

c) Ort der Offenbarung
In einigen Ländern wirkt sich eine Offenbarung auf die Neuheit nur dann aus, wenn die Offenbarung der Information in dem betreffenden Land stattgefunden hat, während eine Offenbarung im Ausland nicht berücksichtigt wird. Als Beispiel kann die Veröffentlichung von gedruckten Materialien genannt werden, die in einem Land veröffentlicht werden und von denen nur wenige Exemplare zufällig oder ungewollt die Grenze in ein anderes Land überschreiten. Ist der Ort der Offenbarung relevant? Wie wird der Ort der Offenbarung bestimmt? Macht es einen Unterschied, ob die Offenbarung in einem bestimmten Land zufällig oder gewollt erfolgt ist? Welches Recht ist anwendbar, um zu beurteilen, ob eine Offenbarung stattgefunden hat (das Recht des Landes, in dem die Information offenbart wurde, oder das Recht des Landes, in dem Neuheit und Erfindungshöhe zu beurteilen sind)? Der Ort der Offenbarung ist nicht relevant. Es wird weltweite, absolute Neuheit verlangt. Somit erübrigen sich die restlichen Fragen.

d) Persönliche Elemente
Es kann unterschiedlich zu behandeln sein, ob eine Information durch den Anmelder eines gewerblichen Schutzrechts oder durch eine dritte Person offenbart wird. Dies betrifft auch den Ausstellungsschutz und die Neuheitsschonfrist. Welche Unterschiede stellen die Gruppen im Hinblick auf die Person fest, die den Stand der Technik veröffentlicht? Wird eine Veröffentlichung anders behandelt, wenn die offenbarende Person durch eine Geheimhaltungsabrede gebunden war? Wie werden Irrtümer in der offenbarten Information behandelt?Es spielt keine Rolle, durch welche Person der Stand der Technik offenbart wurde. Eine Offenbarung durch den Anmelder selbst ist genau so neuheitsschädlich wie durch jede andere Person. Die Schweiz kennt keine allgemeine Erfinderschonfrist («period of grace»). Ausnahmen hiervon bilden die beiden in Art. 7b PatG definierten «unschädlichen Offenbarungen»:
(a) offensichtlich missbräuchliche Offenbarungen zum Nachteil des Anmelders oder
(b) Zurschaustellung auf einer anerkannten Ausstellung im Sinn des Übereinkommens vom 22. November 1928,
vorausgesetzt dass diese Offenbarung innerhalb von sechs Monaten vor dem Anmelde- oder Prioritätsdatum stattfand. In diesem Zusammenhang sei auf den Unterschied zwischen schweizerischem und europäischem Recht hingewiesen: Die sechs Monate werden nach Art. 7b PatG vom Anmelde- oder Prioritätsdatum an zurück gerechnet, nach Art. 55(1) EPÜ12 nur vom Einreichungsdatum an. Eine Geheimhaltungspflicht macht die Offenbarung nicht ungeschehen. Die veröffentlichte Information gehört künftig zum Stand der Technik, auch wenn die offenbarende Person zur Geheimhaltung verpflichtet gewesen wäre. Zu Irrtümern in der offenbarten Information ist keine schweizerische Rechtsprechung bekannt. Gemäss europäischem Recht wirken sich (nicht ohne Weiteres erkennbare) Fehler in der Offenbarung nicht neuheitsschädlich aus13.

e) Empfänger der Information
Im Allgemeinen erfordert das Prinzip der Offenbarung, dass Informationen der Öffentlichkeit gegenüber offenbart werden. Es mag Unterschiede mit Blick auf die Definition des Begriffs «Öffentlichkeit» geben. Dies betrifft u.a. Vertraulichkeitsverpflichtungen oder die Fähigkeit, die Information zu verstehen.Welche Erfordernisse gibt es im Hinblick auf die Fähigkeit zum Verständnis der Information? Reicht die Möglichkeit, dass eine Person Informationen durch zusätzliche Massnahmen, wie etwa die Demontage von Vorrichtungen oder reverse engineering, erhält, aus, um eine Offenbarung zu begründen? Gibt es allgemeine Regeln im Hinblick auf Vertraulichkeit oder stillschweigend vereinbarte Vertraulichkeit?Zur Beurteilung sowohl der Neuheit als auch der erfinderischen Tätigkeit wird eine fiktive Fachperson herangezogen. Diese ist mit dem allgemeinen Fachwissen auf ihrem Gebiet und mit der Fähigkeit zum logischen Denken, nicht aber mit Intuition oder Erfinderfähigkeiten ausgestattet. Voraussetzung für eine relevante Offenbarung des Stands der Technik ist, dass diese fiktive Fachperson die offenbarte Information zu verstehen imstande ist.Für die Offenbarung eines Standes der Technik reicht es aus, wenn die Öffentlichkeit von der Erfindung prinzipiell hat Kenntnis nehmen können; es ist unwichtig, ob jemand wirklich davon Kenntnis genommen hat. Es genügt, dass eine unbestimmte Anzahl von Personen die abstrakte Möglichkeit hatte, ein Dokument einzusehen, wenn sie danach fragten14. Analog dazu wird eine Offenbarung auch durch die blosse abstrakte Möglichkeit begründet, dass beliebige (nicht zur Geheimhaltung verpflichtete) Fachleute infolge einer Benützungshandlung von der Erfindung in einer Weise Kenntnis nehmen, die ihnen die Ausführung erlaubt15. Was zusätzliche Massnahmen wie Demontage oder Analyse betrifft, so wird nach schweizerischem Recht eine neuheitsschädliche Offenbarung begründet, wenn diese zusätzlichen Massnahmen der Fachperson angesichts der Umstände zuzutrauen sind. Dies wird vor allem dann bejaht, wenn der Aufwand für die Untersuchung mässig ist und wenn die Fachperson auch Anlass hatte, in dem Produkt eine Neuigkeit zu vermuten. Als Beispiel sei ein Fall genannt, in welchem der Fachmann durch Reklameschriften auf die Neuigkeit aufmerksam gemacht worden war und es ihm ohne grosse Mühe und ohne Zerstörung des Produktes möglich war, das Produkt zu untersuchen16. Wenn aber die Neuigkeit nicht schon bei einem oberflächlichen Augenschein, sondern erst nach einer Zerstörung des Produktes erkannt werden kann, so begründet ein In-Verkehr-Bringen des Produktes noch keine neuheitsschädliche Offenbarung17. Die schweizerische Rechtsprechung setzt somit bezüglich der Zugänglichkeit eine andere Gewichtung als die europäische, gemäss welcher der Aufwand für die Untersuchung des Produktes unerheblich ist18.Informationen, die nur einer Geheimhaltungspflicht unterstehenden Personen zugänglich gemacht werden, begründen keine Offenbarung des Standes der Technik. Die Geheimhaltungspflicht kann ausdrücklich oder auch nur stillschweigend vereinbart worden sein. Wenn allerdings der Verpflichtete seine Geheimhaltungspflicht verletzt, so gehört die offenbarte Information künftig zum Stand der Technik. Durch Hinterlegung einer Patentanmeldung nach Art. 7b PatG (vgl. Teilfrage 2.4) innerhalb von sechs Monaten nach der missbräuchlichen Offenbarung kann der Anmelder den Schaden immerhin in Grenzen halten

3. Offenbarung durch neue Medien
Moderne Technologien und insbesondere die Einführung des Internets haben den Zugang zu Informationen weltweit in deutlich kürzerer Zeit vereinfacht. Gleichzeitig scheint sich das Leben von Informationen zu verkürzen. Die Information ist während eines kurzen Zeitraums sichtbar und möglicherweise auch reproduzierbar. Dies führt auch zu der Gefahr der Manipulation von offenbarten Informationen, die entweder durch den Urheber oder durch dritte Parteien vorgenommen werden kann. Im Hinblick auf neue Medien scheint diese Gefahr deutlich höher zu sein als bei anderen Formen der Offenbarung, wie etwa schriftlichen Dokumenten. Das World-Wide-Web wirft Fragen auch im Hinblick auf den Ort der Offenbarung auf. Allein der Umstand, dass eine Information weltweit abgerufen werden kann, muss nicht zu einer Offenbarung im Rechtssinne in jedem Land führen. Insofern ergeben sich ähnliche Probleme wie im Zusammenhang mit der mündlichen Offenbarung, insbesondere Fragen der Beweisführung, des Zugangs und der Dauerhaftigkeit von Informationen.

a) Allgemeine Regeln

–  Bewirkt eine papierlose Information, z.B. in einem elektronischen Netzwerk oder über das Internet, eine ausreichende Offenbarung, um Neuheit oder Erfindungshöhe zu beeinflussen? Zur Präzisierung der Frage: Es werden nicht Neuheit und Erfindungshöhe (in Europa erfinderische Tätigkeit) beeinflusst, sondern die patentrechtlichen Kriterien Neuheit und erfinderische Tätigkeit erfüllt oder nicht erfüllt. Somit stellt sich die Frage: Ist eine elektronische Information für diese Kriterien als Offenbarung relevant, solange sie nur gespeichert (aber abrufbar) ist? Nach Meinung der Schweizer Gruppe ist der Bildschirm, eine visuelle Schnittstelle, als Papierersatz zu betrachten, sobald die Informationen darauf abgebildet werden können. Die elektronisch gespeicherte und öffentlich abrufbare (d.h. der Öffentlichkeit zugängliche) Information ist, analog zum Buch in einer öffentlichen Bibliothek, als publiziert und damit als ausreichend offenbart zu erachten.
Gibt es im Vergleich mit anderen Arten der Offenbarung spezifische Erfordernisse?Ausgehend von der obigen Überlegung gibt es keine spezifischen Erfordernisse.
Bestehen Unterschiede im Hinblick auf verschiedene Formen der Netzwerke oder der Kommunikation, wie etwa das World-Wide-Web, Chat-Groups, Forums, E-Mail oder andere?
Solange die Zugänglichkeit dieser verschiedenen Formen der Kommunikation nicht beschränkt ist, bestehen keine Unterschiede zu anderen Arten der Offenbarung. Eine Ausnahme bildet das E-Mail, da es sich an einen oder mehrere spezifisch bezeichnete Adressaten richtet und der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, sofern der Provider nicht jedermann ermöglicht, den E-Mail-Verkehr generell einzusehen.

b) Fragen der Vertraulichkeit
–  Macht es einen Unterschied, wenn die Information verschlüsselt ist?
Die verschlüsselte Information ist analog zur unter Verschluss aufbewahrten, ohne zusätzliche Mittel nicht erfassbaren Information zu werten. Entscheidend ist einzig die Frage, ob jedermann Zugang zur verschlüsselten Information bekommen kann oder ob der Kreis der Empfänger definiert und beschränkt ist. Geknackte verschlüsselte Information ist durch Missbrauch zur Publikation gekommen und kann somit unter den Bedingungen des Art. 7b PatG als unschädliche Offenbarung ausser Betracht bleiben.
Welche Relevanz besitzen Passwörter, Suchmaschinen und die Gebührenpflichtigkeit von Informationen?
Passwörter: Zählen zu elektronischen Schlüsseln, sie gewähren Zugang zur Information für den, der sie kennt. Passwörter haben den gleichen Rang wie die Verschlüsselung, zu der es einen «key» bzw. ein Passwort braucht. Entscheidend ist somit auch die Frage, ob der Zugang zum Passwort eingeschränkt oder nicht eingeschränkt ist. Suchmaschinen: Suchmaschinen haben mit Vertraulichkeit nichts zu tun. Suchmaschinen suchen zusammen, was öffentlich zugänglich, also nicht vertraulich ist.
Gebührenpflichtigkeit: Gebührenpflichtige Informationen können von jedermann ge- gen Gebühr bezogen werden und sind somit nicht vertraulich. Gebührenpflichtigkeit beschränkt den Kreis der Empfänger nicht.


c) Ort der Offenbarung
Wie zuvor erläutert, kann in einigen Fällen der Ort der Offenbarung für die Beurteilung der Neuheit oder Erfindungshöhe relevant sein.
–  Welches ist der Ort der Offenbarung, wenn eine Information in das Internet eingestellt wird?
Vergleicht man es mit der Zuständigkeit der Gerichte bei Streitsachen, so wäre es der Ort, an dem der Erfolg eintritt, mit andern Worten, dort wo die Offenbarung wahrgenommen wird (also nicht der Ort des Servers). Vergleicht man es mit dem Standort von Bibliotheken, wo die Informationen zu greifen sind, wäre es der Ort des Servers.
Genügt der blosse Umstand, dass eine Website an einem bestimmten Ort zugänglich ist, für eine Offenbarung an dem betreffenden Ort, oder sollte es zusätzliche Bedingungen oder Erfordernisse geben?
Für das Kriterium der absoluten Neuheit genügt es, wenn die Information beliebig abgerufen werden kann. Der Ort der Information spielt keine Rolle, weil der Erfolg der neuheitsschädlichen Offenbarung überall auf der Welt eintreten kann.


d) Zeitpunkt der Offenbarung
–  Gibt es bestimmte Erfordernisse für den Zeitpunkt und die Dauerhaftigkeit der Information, die durch elektronische Mittel verfügbar ist? Zeitpunkt: Der Zeitpunkt (Tag) ist wesentlich. Die Feststellung des Zeitpunktes im Sinne des Beweises ist bei Informationen auf dem Web völlig unsicher. Das Datum von elektronischen Informationen ist nicht vertrauenswürdig.Dauerhaftigkeit: Die Dauerhaftigkeit ist nicht wesentlich. Es reicht auch eine kurze Dauer der öffentlichen Verfügbarkeit, damit eine Offenbarung für die Betrachtung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit relevant wird.
Sind Archive notwendig oder wünschenswert? Zum Zweck der Beweisführung und um Informationen einem vertrauenswürdigen Zeitpunkt der Offenbarung zuordnen zu können und auf Dauer zu sichern, wären (zertifizierte) Archive wünschenswert.


e) Fragen der Beweisführung
Informationen im Internet mögen im Einzelfall nicht so dauerhaft sein wie schriftliche Dokumente. Dies kann zu einem Verlust des Dokuments führen oder Probleme der Beweisführung oder Manipulation aufwerfen. Solche Probleme können sich sowohl während des Erteilungsverfahrens als auch bei Verletzungsverfahren ergeben.

–  Wer sollte die Beweislast dafür tragen, dass eine bestimmte Information über das Internet offenbart wurde? Die Beweislast soll derjenige tragen, der die Vorpublikation behauptet.
Erfordert das Internet Regeln, die sich von den schon bestehenden Regeln für die mündliche Offenbarung oder die Offenbarung auf anderem Wege unterscheiden? Wenn der Anspruch an die Strenge des Beweises durch erweiterte Regeln bezüglich oder wegen des Internet angegriffen würde, wäre das ein Schritt zur Rechtsunsicherheit. Es sollen dieselben Beweisregeln zum Beweis der Vorpublikation gelten wie bis anhin. Die leichte bzw. einfache Manipulierbarkeit der elektronisch gespeicherten Informationen erschwert zwar die Beweisführung, erfordert jedoch keine speziellen Regeln.
Sollte es unterschiedliche Grade des Beweises für verschiedene Wege der Offenbarung geben? Nein, die Rechtssicherheit erfordert eine einheitliche Handhabung der Beweisführung.
Erfordert die potenzielle Manipulation von Informationen, die durch neue Medien offenbart wurden, unterschiedliche Massstäbe für die Anerkennung solcher Offenbarungen und gibt es für diese Art von Offenbarungen spezifische Regeln? Mit der potenziellen Manipulation von Informationen stellt sich das Problem der Beweisführung. Es sollten jedoch keine unterschiedlichen Massstäbe für die Anerkennung von Offenbarungen durch neue Medien aufgestellt werden. Eine Möglichkeit, mit einer zusätzlichen Massnahme für die neuen Medien die Strenge der Beweisführung einzuhalten, wäre die Schaffung von staatlichen oder öffentlich-rechtlichen, jedermann zugänglichen Archiven, in welchen Informationen hinterlegt werden können, die als Beweismittel dienen sollen.


4. Vorschläge für die zukünftige Harmonisierung
Nachdem immer mehr Länder, nicht nur in Europa, sich für die Modernisierung und Angleichung ihrer Patentgesetze an das Europäische Patentübereinkommen bzw. das Strassburger Übereinkommen einsetzen und vor allem die entsprechenden Vorschriften betreffend Neuheit und erfinderische Tätigkeit von diesen Übereinkommen übernehmen, ist eine naheliegende Harmonisierung davon zu erwarten, dass noch weitere Länder diesem Beispiel folgen. Eine derartige Vereinheitlichung der materiellen Voraussetzungen erscheint der Schweizerischen Gruppe der AIPPI wichtiger als eine Diskussion der Detailfragen im Zusammenhang mit der Offenbarung des Standes der Technik.
Im Falle einer Revision des schweizerischen Patentgesetzes könnte eine komplette Harmonisierung des Artikels 7 PatG mit dem entsprechenden Artikel 54 EPUe in Betracht gezogen werden.

Zusammenfassung
Die Schweiz hat, als Vertragsstaat des Europäischen Patentübereinkommens, für die Voraussetzungen der Neuheit und der Erfindungshöhe (in Europa: Erfinderische Tätigkeit) sein Patentgesetz an die Bestimmungen des Strassburger Übereinkommens von 1963 angeglichen. Damit sind die Standards für Offenbarungen im Stand der Technik entsprechend diesem Übereinkommen geregelt und werden allgemein als «absolutes» Neuheitserfordernis bezeichnet, d.h. die Offenbarungen sind unabhängig von Weg, Zeit, Ort und Empfänger der Information zu betrachten.
Die Offenbarung durch neue Medien erfordert dementsprechend keine neuen Vorschriften und es stellt sich – jedoch nur für diejenige Partei, welche im Streitfall die Beweislast trägt, d.h. welche eine Offenbarung im Stand der Technik nachweisen soll – in Einzelfällen nur die Frage der Beweisführung. Zur Erleichterung dieser Bürde wäre es sinnvoll, staatliche oder öffentlich-rechtliche, allen zugängliche Archive für Informationen durch neue Medien zu schaffen. Eine weitere Harmonisierungsmöglichkeit sieht die Schweizerische Landesgruppe darin, dass noch weitere Länder ihre Patentgesetze an das Strassburger Übereinkommen anpassen.

Résumé
La Suisse est un Etat contractant de la Convention sur le brevet européen et a aligné, par conséquent, sa loi des brevets pour les conditions de nouveauté et de niveau inventif (en Europe: activité inventive) aux règles de la Convention de Strasbourg de 1963. Les critères de divulgation dans l’état de la technique sont, par conséquent, déterminés par cette convention et sont connus en général comme condition de nouveauté «absolue», c’est-à-dire que les publications sont traitées indépendamment des moyens, de la date, du lieu et du bénéficiaire de l’information. La divulgation par les nouveaux média ne nécessite pas de règles nouvelles et ne pose que la question de la preuve dans certains cas, mais seulement pour la partie qui doit apporter la preuve en cas de litige, c’est-à-dire fournir la preuve d’une divulgation dans l’état de la technique. Pour simplifier cette preuve, on pourrait recommander d’établir des archives pour les informations par les nouveaux média qui soient accessibles à tout le monde et gérées par l’Etat ou une organisation contrôlée par l’Etat.
Le Groupe Suisse de l’AIPPI voit une possibilité d’harmonisation améliorée en ce que des pays additionels alignent leur loi des brevets à la Convention de Strasbourg.



Mitglieder der Arbeitsgruppe: Jan D'haemer (Vorsitzender), Dr. Konrad Becker, Alexandra Frei, Dr. Manfred Groner, Dr. Peter Heinrich, Sava V. Kulhavy, Dr. Paul Pliska und Marco Zardi.
1HGer Bern, 10. Dezember 1996, sic! 1997, 2.
2BAGE, 16. Januar 1979, PMMBI 1983 I 65.
3Nach P. HEINRICH, "PatG-EPÜ: Kommentar zum Schweizerischen Patentgesetz und den entsprechenden Bestimmungen des Europäischen Patentübereinkommens, Zürich 1998, Rz. 7.10-7.22.
4R.E. BLUM / M.M. PEDRAZZINI, Das schweizerische Patentrecht, Bern 1957, 343 f.
5Entscheidung T 677 / 91 einer Technischen Beschwerdekammer, des Europäischen Patentamtes, unveröffentlicht.
6M. SINGER / D. STAUDER, (HG.), Europäisches Patentübereinkommen: Kommentar, Köln 2000, Art 54 N 52.
7BAGE, 30. Oktober 1972, SMI 1973, 35.
8BAGE, 15. November 1962, PMMBI 1963 I 19, sowie BGE 94 II 285.
9HGer Zürich, 25. Juli 1984, SMI 1986, 315.
10HEINRICH, (Fn. 3), Rz. 1.32, 1.33.
11BGE 94 2 319.
12Bestätigt durch die Entscheidung G 3/98 der Grossen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes, ABl. EPA 2001, 62 nur vom Einreichungsdatum an.
13  Entscheidung T 77/87 einer Technischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes, ABl. EPA 1990, 280.
14BGE 94 II 285.
15HGer Bern, 26. November 1990, und BGer, 15. August 1991, SMI 1993, 123.
16BGE 68 II 393.
17BGE 58 II 285.
18Entscheidungen G 1/92 und T 952/92 der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamtes, ABl. EPA 1993, 277 bzw. 1995, 755.


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