sic! 2003 Ausgabe 4
HEINZ STREITZIG*

Patente - Quo Vadis? - Der Paradigmenwechsel fand statt - Eine Replik

Die Erwiderung von Welch/Müller1 auf den Artikel von Frauenknecht2 basiert auf einer einseitigen Darstellung und Auslegung der aktuellen Situation im Gewerblichen Rechtsschutz. Der Autor hat an dem von Frauenknecht aufgezeigten Paradigmenwechsel aktiv teilgenommen, sodass sich die vorliegende Gegendarstellung zu Welch / Müller aufdrängt. Beim Lesen der angesprochenen Publikation bekommt man zunehmend den Eindruck, dass es sich hier um Kritik um jeden Preis handelt.

La réaction de Welch/Müller 1 suite à l'article de Frauenknecht 2 constitue une présentation et une interprétation partiales de la situation actuelle en matière de protection du droit de la propriété industrielle. L'auteur du présent article a participé activement au changement de paradigmes exposé par Frauenknecht et se doit par conséquent d'apporter la rectification suivante en réponse à l'avis exprimé par les deux auteurs précités. Une lecture de leur analyse suscite l'impression qu'il s'agissait à tout prix de faire une critique.


I.     Mitwirkung des Autors am Paradigmenwechsel
II.    Änderung im Rechtsdenken?
III.   Paradigmenwechsel in der Patentierbarkeit
IV.   Biotechnologische Erfindungen
V.    Softwarepatente und Patente betreffend Geschäftsmethoden
VI.   Recherchierbarkeit von Geschäftsmethoden / Vorbenutzung
VII.  Fazit

I. Mitwirkung des Autors am Paradigmenwechsel

Nach einer Tätigkeit als Chemiker in der französischen Industrie wurde ich in den 60er-Jahren im ehemaligen Institut International des Brevets (IIB; heute EPA) in Den Haag zum Recherchen- und Sachprüfer ausgebildet. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Prüfer erhielt ich von Sandoz (heute Novartis) ein Angebot als Patentanwalt im Pharmabereich. In dieser Eigenschaft habe ich Sandoz in verschiedenen internationalen Gremien und Fachgruppen (u.a. Union, AIPPI, VIPS) vertreten. Die Harmonisierung des Patentrechts und die Schaffung des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) fiel in diese Zeit. Im Zusammenhang damit habe ich an zahlreichen Diskussionen und Kommissionssitzungen mitgewirkt und damit auch am Paradigmenwechsel teilgenommen. In dieser Qualität nehme ich heute zu den Ausführungen von Welch/Müller Stellung.

II. Änderung im Rechtsdenken?
Sogar die von Frauenknecht erwähnte jahrhundertelange Kontinuität des Patentrechts wurde unter Hinweis darauf bestritten, dass in Deutschland ein «diesen Namen verdienendes Patentgesetz» erst ab 1877 in Kraft ist, was aussagen sollte, dass der Begriff «jahrhundertelange Kontinuität» unzutreffend sei. Obzwar die Autoren behaupten, sich ausschliesslich mit der Situation in Europa befassen zu wollen, haben sie übersehen, dass das erste Patentgesetz der Welt im Jahre 1474 in Venedig unter dem Eindruck der positiven Einstellung des venezianischen Adels zu technischen Neuerungen aufgrund der Erfordernisse der Seekriegsführung erlassen wurde. Zu erwähnen sind auch das in England im Jahre 1624 eingeführte «Statute of Monopolies», welches sich in der Sektion 6 mit Erfindungspatenten für technische Erfindungen mit festgelegter Patentdauer beschäftigte und das erste französische Patentgesetz von 1791. Die Autoren haben es sich sehr einfach gemacht durch Erwähnung der Patentgesetze Deutschlands (ohne Vorläufer in den Ländern) und der Schweiz um den von Frauenknecht gewählten Begriff «jahrhundertelange Kontinuität des Patentrechts» zu kritisieren. Die Behauptung: «Ansätze zur Regelung des Patentwesens, die aber im Wesentlichen keine praktischen Auswirkungen hatten» - ist völlig aus der Luft gegriffen und falsch. Das Studium der «Geschichte des Patentwesens»3 erschliesst die Tatsachen.

III. Paradigmenwechsel in der Patentierbarkeit
Von Frauenknecht wurde darauf hingewiesen, dass (im Zeitraum der 68er-Bewegung) unter dem Eindruck einer veränderten gesellschaftlichen Entwicklung Ende der 60er-Jahre ein Umdenken auch auf dem Gebiet des Erfindungsschutzes stattgefunden hat. Dieses Umdenken hat das ganze gesellschaftliche Leben betroffen. Hiervon blieb auch das Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes nicht ausgespart, was sich in der Folge in einer erhöhten Grosszügigkeit in der Handhabung der angestammten Regeln äusserte. Ich erinnere mich an zahlreiche Diskussionen in den Gremien, insbesondere im Zusammenhang mit der Harmonisierung des Patentrechts und an die Einflussnahme der damaligen APO (Ausserparlamentarische Opposition) auf die Vernehmlassungsverfahren. Die Strasse (68er-Bewegung) hat sich in vielen Bereichen durchgesetzt und wirkt auch heute noch nachhaltig weiter. Von den Ansätzen im Strassburger Übereinkommen von 1963 bis zur Münchner Konferenz 1973 hat diese APO massiv mitdiskutiert; ein wesentliches Angriffsziel war die Technik und damit der «technische Fortschritt» als Patentierungsvoraussetzung bzw. als schützenswertes Gut. - Dies vor allem in Deutschland und Frankreich. Die Erweiterung der Schutzmöglichkeit hat sich auf dem Gebiet der Chemie, insbesondere der pharmazeutischen Chemie, sehr segensreich ausgewirkt. Hierdurch wurden Arzneimittel d.i. therapeutisch wirksame Mittel schutzfähig, Verfahren zur chirurgischen und therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers blieben hingegen vom Schutz ausgenommen. In diesem Abschnitt wird von den beiden Autoren auch darüber spekuliert, warum im Deutschen Patentgesetz von 1877 nur der Schutz von Verfahren zur Herstellung von chemischen Verbindungen festgeschrieben, ein Schutz von chemischen Stoffen per se jedoch ausgeschlossen wurde. Meines Erachtens war der Grund hierfür nicht die Furcht vor übermächtigen Monopolen, sondern in dieser Zeit der beginnenden Industrialisierung eher das vorrangige Interesse an der Entwicklung von neuen chemischen Verfahren. Die praktischen Auswirkungen auch dieses Paradigmenwechsels sind von Frauenknecht richtig dargestellt, daran ändern gegenteilige Zitate nichts.

IV. Biotechnologische Erfindungen
Hier geht es um die Frage, ob es im Zeitpunkt der Redaktion des EPÜ vorhersehbar war, dass ein Schutzbedürfnis für biotechnologische Erfindungen entstehen würde. Die Wissenschaft hat in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts das Rüstzeug für die moderne Biotechnologie/Gentechnologie entwickelt. Das hierfür richtungsweisende Patent von Cohen und Boyer (Stanford University) ist zwar erst 1980 erteilt worden; technische Mittel hierzu (Bioreaktoren, Mischer, Schaumbrecher, FUNDA-Filter, etc.) wurde zu Beginn der 70er-Jahre massgeblich an der ETH (Dr. Hans Müller, Prof. Dr. Fiechter) und an der TH Wien (Prof. Dr. Kattinger) entwickelt und teilweise auch patentiert. So war ich bereits im Jahre 1968 als Patentanwalt und Vertreter von Sandoz Basel zur Eröffnungsfeier des für die biotechnologische Forschung bestimmten Sandoz Forschungsinstituts in Wien eingeladen. - Dies folglich 10 Jahre vor der Betriebsaufnahme des EPA! Das Schutzbedürfnis in diesem Bereich war somit eindeutig bereits vor 1977 bekannt und hätte - falls gewünscht - leicht auf der Münchner Konferenz von 1973 in die Gesetzgebung einfliessen können.
Die Bewährungsprobe für das EPÜ kam, als die Harvard University eine Patentanmeldung zum Schutz einer sog. «Krebsmaus» einreichte, d.h. einer genmodifizierten Maus mit hohem Risiko für Krebserkrankung mit der Absicht, an der Maus Heilmittel gegen Krebs zu testen. Bei der Prüfung der Anmeldung wurde erkannt, dass einer Patentierung der Maus Art. 53 lit. b EPÜ, welcher u.a. den Schutz von Tierarten verbietet, entgegenstand. Nachdem aber in Kreisen der Industrie und des Patentamtes ein starkes Interesse an einer Patentierung der Krebsmaus bestand, hat man überlegt, wie man hierfür diesen Schutz erreichen könnte, und nach langen Diskussionen hat die Grosse Beschwerdekammer der Erteilung eines Schutzrechts zugestimmt. Hierfür wurde vorgängig am 6. Juli 1998 die Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates erlassen, worin postuliert wurde, dass Erfindungen, deren Gegenstand Pflanzen oder Tiere sind, patentiert werden können, wenn die Ausführungen der Erfindung technisch nicht auf eine bestimmte Pflanzensorte oder Tierrasse beschränkt sind. Durch diese Richtlinie wurde ein weiterer Paradigmenwechsel vollzogen und ein im Gesetz vorgesehenes Patentierungsverbot umgangen. - Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Änderungen im Schweizerischen Tierschutzgesetz, wonach die Zuordnung von Tieren («lebendem Material») als Sache im «Privateigentum» zu Rechtsverletzungen führen könnte: ein Widerspruch?

V. Softwarepatente und Patente betreffend Geschäftsmethoden
Die Autoren geben zu, dass seit dem Bestehen des europäischen Patentübereinkommens im Bereich von Patenten für «Software» bzw. Geschäftsmethoden «eine gewisse Änderung der Praxis stattgefunden hat». Hier ist das Problem grundsätzlich dasselbe wie bei der oben besprochenen Patentierung von biotechnologischen Erfindungen. Art. 52 Abs. 2c EPÜ schliesst u.a. von der Patentierung aus: Pläne, Regeln und Verfahren für geschäftliche Tätigkeiten sowie Programme für Datenverarbeitungsanlagen. Nachdem in Europa vor allem Vertreter von Firmen mit unüberwindbaren wirtschaftlichen Schwierigkeiten sehr an Patenten für geschäftliche Tätigkeiten interessiert sind und gleichzeitig in den USA sogar Patente für die Reservation von Toiletten4 erteilt werden, geriet auch das EPA unter Druck. Der am 22. Februar 2002 von der EU-Kommission vorgelegte Entwurf (Richtlinie 2002/0047 [COD]) erlaubt jedoch die Hoffnung, dass sich der Druck innerhalb der EU zur Änderung von Art. 52 EPÜ relativiert. Die Unterstellung gegenüber Frauenknecht, wonach er übersehe, «dass technischer Fortschritt keine Patentierungsvoraussetzung mehr ist und bei der Prüfung auf Technizität keine Rolle mehr spielen kann», ist völlig abwegig: Wenn die zur Ausführung gelangenden technischen Mittel im Bereich der Trivialität anzusiedeln sind, so kann die Voraussetzung der «Technizität» wohl kaum erfüllt sein. Im Übrigen braucht man auf die Entscheidungspraxis des EPA nicht mehr weiter einzugehen, ist doch diese in der Fachliteratur (GRUR, Mitteilungen der Deutschen Patentanwälte, etc.) profund kommentiert worden.
Den beiden Autoren ist offensichtlich nicht bekannt, dass an der «Diplomatischen Konferenz 2000» - unter schweizerischer Leitung - versucht wurde, die Schranken der Patentierung in Art. 52 EPÜ niederzureissen, um eine zu den USA analoge «wilde» Praxis zu ermöglichen. Die Konferenz verweigerte zur Überraschung der vom EPA beauftragten Juristen - auf diplomatische Art - die Zustimmung hierzu und verschob das Traktandum auf eine nächste «Diplomatische Konferenz».

VI. Recherchierbarkeit von Geschäftsmethoden / Vorbenutzung
Die 1995 zur internationalen Patentklasse G06F «Datenverarbeitung; Rechnen; Zählen» hinzugefügte Untergruppen F17 bis 60 betreffen lediglich in G06F 17/60 «Verwaltungstechnische, wirtschaftliche, geschäftliche, Überwachungs- oder Voraussagezwecke». Die Untergruppen G06F 17/00 bis G06F 17/50 beziehen sich auf mathematische Operationen, die Lösung von Gleichungen, Sprachanalyse, Textverarbeitung, Datenregistrierung und endet mit rechnergestützten Entwurfsystemen (CAD). Als ehemaligem Patentprüfer ist es mir schleierhaft, wie mit diesem rudimentären Instrument gezielt nach Geschäftsmethoden recherchiert werden kann. Die weitere Aussage der beiden Autoren: «In vielen Fällen wird die Dokumentation von Marktteilnehmern breiter sein als der Mindestprüfstoff des Patentamtes», spricht für sich selbst!
Der Hinweis auf die Vorbenutzung (u.a. Art. 35 PatG und die angeblich nicht angesprochene Praxis in den USA) hilft, wie der erfahrene Praktiker weiss, in den seltensten Fällen. Die grösste Hürde ist hierbei erfahrungsgemäss das Beibringen des notwendigen Beweismaterials (spezifische Geschäftsmethoden, insbesondere in der EDV, werden beim Auftraggeber angewendet und meist nicht an Dritte verkauft). Zudem gilt das Territorialitätsprinzip bei der Vorbenutzung, so dass eine lokale frühere Anwendung eine Verletzung, beispielsweise bei Geschäften über das Internet, nicht heilen kann. Zahlreiche Verletzungsprozesse beweisen, dass sich Vorbenutzer oft in einer nur vermeintlichen Sicherheit wiegen und höchst selten gegenüber einem Patentinhaber obsiegen. Die beiden Autoren sehen im Einspruchsverfahren oder einer Nichtigkeitsklage den Rettungsanker bei zu Unrecht erteilten Patenten. Zu weit erteilte Schutzrechte dürfen nicht erst den Gerichten zur Beurteilung überlassen werden. Die damit verbundenen enormen Kosten und die durch Expertisen entstehenden Zeitverluste würden auch bisher gesunde Betriebe ruinieren.

VII. Fazit
Die von Frauenknecht in seinem Artikel getroffenen Feststellungen sind für den erfahrenen Praktiker bittere Wahrheit. Welch/Müller haben von einer gewissen Änderung der Praxis gesprochen aber betont, dass diese Änderungen in ihrer Konsequenz weniger drastisch seien. Auch wenn versucht wird, diese Änderungen kleinzureden, so geben sie doch zu, dass diese stattgefunden haben, was bedeutet, dass sich EPA-Organe zeitweilig über das Gesetz (wie sachte auch immer) hinweggesetzt haben und einen Paradigmenwechsel vollzogen bzw. in die Wege geleitet haben. Die Wirtschaft und die Rechtsprechung dürfen nicht mit Patenten im US-amerikanischen Stil belastet werden. Dies können nur Patentgesetze mit klaren Eckwerten verhindern; die versuchten Aufweichungen und Änderungen von Art. 52 EPÜ könnten sich leicht für alle Beteiligten kontraproduktiv auswirken. Es ist das Verdienst von Frauenknecht, mit aller Klarheit und mit konstruktiven Vorschlägen die aktuelle Situation im Gewerblichen Rechtsschutz aufzuzeigen.



*Dr. phil., Patentanwalt (European Patent Attorney), PPS Polyvalent Patent Service AG, Zweigbüro Kü a.R.
1A. WELCH/CHR. MÜLLER Patente - Quo vadis? - Eine Erwiderung, sic! 2002, 290-296.
2A. FRAUENKNECHT, Patente - Quo Vadis? sic! 2001, 715-722.
3P. KURZ, Weltgeschichte des Erfindungsschutzes in: Patentanwaltskammer (Hg.), Zum Hundert-Jahre-Jubiläum des Gesetzes betreffend die Patentanwälte vom 21. Mai 1900, Kön 2000.
4 
US-B1-6,329,919 (IBM); Claim 1: A method of providing reservations for rest-room use, comprising: receiving a reservation request from a user; and notifying the user when the restroom is available for his or her use.


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