sic! 2003 Ausgabe 10
MARTIN AEBI* / FRITZ BLUMER** / ALEXANDRA GICK*** / JACQUES DE WERRA****

Bericht über das INGRES-Seminar Patentrecht in München
(12. und 13. Mai 2003)

Einführung
Am 12. und 13. Mai 2003 führte das Institut für gewerblichen Rechtsschutz (INGRES) auf Einladung des Europäischen Patentamts (EPA) ein Seminar zum Thema Patentrecht in München durch. Ziel war es, die Tradition von INGRES-Seminaren in München weiter zu führen und aus erster Hand eine übersicht über die neusten Entwicklungen im internationalen, europäischen und deutschen Patentrecht zu erhalten. Die rund 40 Teilnehmer besuchten unter der Leitung von Dr. Michael Ritscher das EPA, danach das Max-Planck-Institut für geistiges Eigentum, Wettbewerbsrecht und Steuerrecht und trafen sich dort auch mit Vertretern des Deutschen Bundespatentgerichts.
Nach einer allgemeinen Einführung von Prof. Manuel Desantes, Vizepräsident der Generaldirektion 5 beim EPA, der die langjährigen engen und guten Beziehungen zwischen der Schweiz und dem EPA unterstrich, informierte Ciaràn McGinley, Controller des EPA, über das Programm Mastering the Workload. Das EPA ist bestrebt, die Vorgaben der Pariser Regierungskonferenz von Juni 1999 umzusetzen und nicht mehr als drei Jahre zwischen Anmeldung und Veröffentlichung des Patents verstreichen zu lassen.

Die Zukunft des EPü
Gert Kolle, Direktor bei der Hauptdirektion für internationale Angelegenheiten und Patentrecht beim EPA, berichtete über die Zukunft des europäischen Patentsystems.
Er hob insbesondere zwei spezifische Ziele des zukünftigen europäischen Patentsystems hervor, (1) die Kostensenkung der Patenterteilungsowie (2) die Revisionsarbeiten des Europäischen Patentübereinkommens (EPü). Kolle stellte zunächst fest, dass die übersetzungskosten eines europäischen Patents heute ungefähr 39% der Gesamtkosten betragen. Zur Senkung dieser Kosten wurde im Oktober 2000 ein neues übereinkommen in London unterzeichnet (Text des übereinkommens abrufbar bei www.european-patent-office.org/news/info/2001_12_07_d.htm). Patentschriften müssen gemäss dem Abkommen nicht mehr übersetzt werden, wenn das Patent für einen der dem Londoner übereinkommen angehörenden EPü-Vertragsstaat erteilt ist, in dem eine der EPA-Sprachen Amtssprache ist. Wo dies nicht der Fall ist, muss der Anmelder eine vollständige übersetzung der Patentschrift in die Landessprache nur vorlegen, wenn das Patent nicht in der vom betreffenden Staat bestimmten EPA-Sprache vorliegt. Eine übersetzung bei Patentstreitigkeiten vor Gerichten kann dennoch erforderlich sein.
Sodann referierte Kolle über die Revisionsarbeiten des EPü von 2000. Der neue Text des EPü («EPü 2000» genannt) wird zwei Jahre nach seiner Ratifikation durch 15 Vertragsstaaten in Kraft treten. Bis jetzt liegen 7 Ratifikationen vor, so dass mit einer Frist von 2 bis 4Jahren bis zum Inkrafttreten des revidierten übereinkommens zu rechnen ist (der vollständige Text des EPü 2000 samt Ausführungsordnung ist in einer Sonderausgabe des ABl. EPA No. 1/2003 veröffentlicht).
Erwähnenswert unter verschiedenen Neuerungen sei die neue - im Hinblick auf die Anpassung des EPü an das künftige Gemeinschaftspatent praktische - Befugnis des Verwaltungsrats, das EPü 2000 abändern zu können, um seine übereinstimmung mit einem internationalen Vertrag auf dem Gebiet des Patentwesens oder den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Patentwesens zu gewährleisten (Art. 33 Abs. 1 lit. b EPü 2000).

Entwicklungen beim PCT
York Busse, Leiter des PCT-Teams beim EPA, referierte über die neusten Entwicklungen des Vertrags über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens (Patent Cooperation Treaty, PCT) und über die Rolle des EPA im System des PCT.
Busse betonte, dass das EPA die Mehrheit der internationalen Recherchen und der internationalen vorläufigen Prüfungen für die internationalen Patentanmeldungen unter dem PCT durchführt, was zur bereits erwähnten Arbeitsbelastung des EPA geführt hat. Ab dem 1. Januar 2004 treten zudem neue Bestimmungen der Ausführungsordnung des PCT in Kraft, die insbesondere die Einführung einer einheitlichen Gebühr für internationale Patentanmeldungen und die Erweiterung des Umfangs der internationalen Recherchen sowie der internationalen vorläufigen Prüfungen vorsehen.

Das Gemeinschaftspatent
Eugen Stohr, Hauptjurist in der Direktion für internationale Angelegenheiten des EPA, referierte danach über das Gemeinschaftspatent.
Dieses solle einen einheitlichen, vom Patentrecht der EU-Mitgliedstaaten autonomen Charakter haben, vom EPA erteilt und von diesem zentral verwaltet werden (s. auch den ersten Vorschlag der europäischen Kommission über ein Gemeinschaftspatent vom 1. August 2000, europa.eu.int/comm/internal_market/en/indprop/patent/412de.pdf). Weitere Merkmale seien die einheitlichen übersetzungserfordernisse, eine zentrale Administration sowie ein einheitliches Streitregelungssystem. In Bezug auf die übersetzungsfrage sieht die aktuelle Kompromisslösung des Wettbewerbsrates vom 3. März 2003 (Dok 6874/03) vor, dass die Patentansprüche in alle offiziellen Sprachen (19 übersetzungen) übersetzt werden müssen (es sei denn ein Mitgliedstaat verzichtet auf die übersetzung in seine Amtsprache). Um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten, wird die Zuständigkeit erster Instanz für Patentverletzungs- und Patentnichtigkeitsklagen ausschliesslich bei einem - noch zu schaffenden - Gemeinschaftspatentgericht liegen (Art. 225a des EU-Vertrags). Rechtsmittelinstanz wäre das Europäische Gericht erster Instanz. Geplant ist die Einführung der neuen EU-Patentgerichtsbarkeit bis Januar 2010; in der übergangszeit sollen die nationalen Gerichte zuständig sein.

Das EPLA
Ulrich Joos, Hauptjurist in der Direktion für internationale Rechtsangelegenheiten des EPA, berichtete schliesslich über das in Vorbereitung stehende übereinkommen über die Schaffung eines Streitregelungssystems für das - auch nach Schaffung des Gemeinschaftspatents weiterbestehende - EU-Bündelpatent (European Patent Litigation Agreement, EPLA). Das EPLA ist ein Projekt des EPA, an dem sich die Schweiz aktiv beteiligt, und das auf den politischen Impuls der Pariser Regierungskonferenz der Vertragsstaaten der EPO von Juni 1999 zurückzuführen ist.
Nach dem EPLA soll das europäische Patentgericht für das Bündelpatent aus drei Organen bestehen: (1) dem Gericht erster Instanz (das selbst aus einer zentralen Kammer und aus optionalen regionalen Kammern besteht), (2) einem Berufungsgericht und (3) einer Geschäftsstelle für administrative Aufgaben. Daneben schafft das EPLA einen Verwaltungsausschuss, der insbesondere für den Erlass der Verfahrensordnung des europäischen Patentgerichts und für die Ernennung der Richter zuständig sein soll. Bemerkenswert ist, dass das EPLA selbst einheitliches materielles Patentrecht schafft, insbesondere im Hinblick auf die Definition der Verletzungshandlungen. Daneben regelt das EPLA natürlich auch das Verfahren vor dem europäischen Patentgericht. Die «saisie contrefaçon», d.h. die Inspektion von Räumlichkeiten und die Beschlagnahmung von Beweismitteln, ist als Beweissicherungsmassnahme vorgesehen.
Finanziert werden soll das europäische Patentgericht durch Gerichtsgebühren. Es ist noch unklar, ob diese Finanzierungsmethode sich als ausreichend erweisen wird. Die Frage, ob die Arbeiten am EPLA trotz des Gemeinschaftspatentes weiter vorangetrieben werden sollen, wurde inzwischen an der 7. Sitzung der Untergruppe zur Arbeitsgruppe «Streitregelung» vom 19.-20. Mai 2003 positiv entschieden (s. Statusreport des IGE vom 11. Juni 2003, <link http: www.ige.ch d jurinfo>www.ige.ch/d/jurinfo/j14115.htm).

Patente für Software und Geschäftsmethoden
Am Montagnachmittag orientierte Dr. rer. nat. Stefan Steinbrener (Vorsitzender der Beschwerdekammer 3.5.1, Mitglied der Grossen Beschwerdekammer) über die aktuelle Rechtsprechung der zuständigen Beschwerdekammer des EPA zur Patentierung von Software und Geschäftsmethoden.
Einleitend wies Steinbrener auf die wachsende Sensibilisierung der öffentlichkeit und die wachsende Politisierung der Diskussion hin. Der Beitrag der Rechtsprechung zu dieser Diskussion sei zwei wesentlichen Beschränkungen unterworfen. Einerseits bestehe die Verpflichtung, die aktuelle gesetzliche Regelung anzuwenden. Die Rechtsprechung dürfe nicht über eine angemessene Auslegung der bestehenden Gesetze hinausgehen. Andererseits könnten in der Regel nur solche Fragen beantwortet werden, die für die vorgelegte Sache entscheidrelevant seien. Eine konvergente Weiterentwicklung der Rechtsprechung sei daher abhängig von einer hinreichend grossen Anzahl zu entscheidender Fälle pro Zeiteinheit. Bei Beschwerden, die Patente auf Software und Geschäftsmethoden betreffen, sei diese Voraussetzung erst in jüngster Zeit einigermassen gegeben. Mittlerweile zeichne sich jedoch gegenüber der bisher nicht immer geradlinigen Entwicklung eine allmähliche Konvergenz der Entscheidungen ab. Nach seinen einleitenden Bemerkungen umriss der Referent den Status quo der Rechtsprechung der Beschwerdekammern anhand von vier Entscheidungen, die einen starken Einfluss auf die gegenwärtige Praxis zeitigen1. Die Grundzüge der aktuellen Auslegungspraxis lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Abgrenzungskriterium zwischen «Erfindungen» und «Nichterfindungen» ist der technische Charakter. Computerprogramme bewirken zwar physikalische Veränderungen bei der Hardware, wenn sie geladen werden. Dieser «triviale» technische Charakter wird jedoch als nicht ausreichend angesehen. Vielmehr ist ein über die normale technische Wechselwirkung jedes Programms hinausgehender «weiterer» technischer Effekt notwendig. Erst dann liegt eine Erfindung im Sinn von Art. 52 Abs. 1 EPü vor. Auf dem Gebiet der Wirtschaft und der geschäftlichen Tätigkeiten sind gemäss Art. 52 Abs. 2 lit. c EPü die «Pläne, Regeln und Verfahren» vom Patentschutz ausgenommen. Die Implementierung einer nichttechnischen geschäftlichen Tätigkeit in einem technischen System kann jedoch technische überlegungen erfordern und auf diese Weise zum technischen Charakter der Erfindung beitragen. Ein Computersystem, das zur Verwendung im geschäftlichen oder wirtschaftlichen Bereich programmiert ist, verfügt über den Charakter einer konkreten Vorrichtung im Sinn einer physikalischen Entität, die für einen praktischen Zweck künstlich hergestellt wurde. Es liegt damit eine Erfindung im Sinn von Art. 52 Abs. 1 EPü vor.
Die einzelnen Voraussetzungen der Patentfähigkeit sind auseinander zu halten. Die Prüfung auf das Vorliegen einer Erfindung darf nicht mit der Prüfung auf gewerbliche Anwendbarkeit, Neuheit und erfinderische Tätigkeit vermischt werden. Insbesondere ist es nicht zweckmässig, zwischen neuen und bekannten Merkmalen zu unterscheiden, um zu entscheiden, ob eine Erfindung im Sinn von Art. 52 Abs. 1 EPü vorliegt. Für einen Ansatz, der die Prüfung auf Vorliegen einer Erfindung anhand des Beitrags ermittelt, den der beanspruchte Gegenstand zum Stand der Technik liefert, gibt es keine Rechtsgrundlage.
Das allgemeine Erfordernis, dass eine Erfindung technischen Charakter aufweisen muss, führt dazu, dass eine Erfindung im Sinn von Art. 52 Abs. 1 EPü nur durch die Merkmale bestimmt werden kann, die zu diesem technischen Charakter beitragen. Daher sollten Merkmale, die keinen derartigen Beitrag liefern, bei der Prüfung der beanspruchten Erfindung auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit unberücksichtigt bleiben.

Erfahrungen mit der Patentgerichtsbarkeit am BPatG
Der zweite Teil des Seminars war dem Thema der «Erfahrungen mit der Patentgerichtsbarkeit in Deutschland» gewidmet. Dieses Thema interessierte die Teilnehmer auch wegen des AIPPI / INGRES-Projektes der Einführung eines Eidgenössischen Patentgerichts. Zwei Richter am deutschen BPatG, Dr. Paul Ströbele und Dr. Wilfried Anders, boten als Referenten wertvolle Einsichten in ihre Tätigkeit.
Wie Dr. Werner Stieger einleitend bemerkte, war es für die Schweizer Seminarteilnehmer vor dem Hintergrund der laufenden Diskussionen um ein neues eidgenössisches Patentgericht erster Instanz besonders interessant, aus erster Hand über die Geschichte und Funktionsweise des deutschen BPatGs zu erfahren.
Dr. Paul Ströbele, Vorsitzender des 24. Senats (ein Markenbeschwerden-Senat) des Bundespatentgerichts, erläuterte zuerst den geschichtlichen Hintergrund der spezifisch deutschen Trennung von Patentverletzungsgericht und Patentnichtigkeitsgericht. Als in den 1950er-Jahren wegen eines Kostenfestsetzungsentscheides des deutschen Patentamts das Verwaltungsgericht München angerufen wurde, hatte die Justiz die Stellung des damaligen DPA und die Rechtsnatur von dessen Entscheidungen zu klären. Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass das Patentamt kein Gericht im Sinne des Gesetzes sei und dass die Entscheidungen seiner Beschwerdesenate vor dem Verwaltungsgericht angefochten werden könnten. Der Gesetzgeber reagierte schnell und schuf mit dem Bundespatentgericht (BPatG) eine Instanz, an die Entscheidungen des DPA über die Erteilung oder die Vernichtung von Patenten weitergezogen werden können (Technische Beschwerdesenate) und welche für Patentnichtigkeitsklagen ausschliesslich zuständig ist (Nichtigkeitssenate).
Für Patentverletzungsklagen blieben weiterhin die Gerichte der einzelnen Bundesländer zuständig. Dass damit unterschiedliche gerichtliche Zuständigkeiten für Verletzung- und für Nichtigkeitsprozesse entstanden, hatte weniger einen sachlichen, sondern vielmehr einen historisch-politischen Hintergrund. Die Länder waren nicht berechtigt, die sachliche Zuständigkeit für Patentverletzungsprozesse an ein Bundesgericht abzutreten. Damit die sachliche Zuständigkeit für Verletzungs- und für Nichtigkeitsprozesse wenigstens vor der oberen Instanz auf Bundesebene nicht auseinander fällt, wurde das BPatG nicht als Verwaltungsgericht, sondern als «Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit» konzipiert. Seine Entscheidungen können daher wie die in Verletzungssachen gefällten Urteile der Oberlandesgerichte an den BGH weitergezogen werden.
Die Zweiteilung der gerichtlichen Zuständigkeit für Verletzungs- und für Nichtigkeitsprozesse bringt es mit sich, dass das Verletzungsgericht an die Erteilung des Schutzrechts gebunden ist. Diese Besonderheit des deutschen Systems ge- genüber den meisten anderen Justizsystemen auf der Welt gilt nicht nur für das Patentrecht, sondern auch für das Markenrecht. Die Bindung des Verletzungsrichters an die Schutzrechtserteilung hat nach Auffassung von Dr. Ströbele auch Auswirkungen auf die Qualität der Prüfung. Das DPMA kann nicht (wie dies andere Markenbehörden tun) eine Marke «im Zweifel eintragen» und es dem Verletzungsrichter überlassen, die allenfalls ungerechtfertigte Eintragung im Prozess zu überprüfen. Dieser Unterschied zwischen dem deutschen und den meisten anderen Systemen bedeutet auch, dass die Harmonisierung des Patent- und Markenrechts sowie der entsprechenden Praxen nicht vereinfacht wird. Für die Gemeinschaftsmarke wurde eine interessante Mischung zwischen den Systemen gewählt: Grundsätzlich besteht eine Bindung des Verletzungsrichters an die Markenerteilung; vor dem (nationalen) Gemeinschaftsmarkengericht kann aber eine Widerklage gegen die Gemeinschaftsmarke abhängig gemacht werden. Die Geschäftslast des BPatGs hat sich in den letzten Jahren in Richtung der Markenangelegenheiten verschoben. Die Tätigkeit des EPA hat das BPatG entlastet. In Markenangelegenheiten hat sich ein solcher Entlastungseffekt nach der Betriebsaufnahme des Gemeinschaftsmarkenamts nicht eingestellt.
Die für Patentnichtigkeitssachen zuständigen Technischen Beschwerdesenate sind mit vier Richterinnen oder Richtern besetzt. Der Vorsitzende und zwei Beisitzende sind Techniker, der dritte Beisitzer ist Jurist. Dr. Ströbele findet es zweckdienlich, dass die technischen Richter in den Technischen Beschwerdesenaten in der überzahl sind.
Anders als vor deutschen Gerichten üblich, wird bei der Geschäftsverteilung innerhalb des BPatGs auf die fachlichen Spezialisierungen der Richterinnen und Richter Rücksicht genommen. In Markensachen gibt es eine Spezialisierung nach den Waren- und Dienstleistungsklassen der Nizza-Klassifikation.
Das Verfahren vor dem BPatG ist nicht nur vom Beibringungsgrundsatz (Behauptungsmaxime in der Schweizerischen Terminologie), sondern auch vom Grundsatz der Amtsermittlung geprägt. Im Rahmen der Anträge besteht keine Bindung an die Parteivorbringen und es besteht kein Anwaltszwang. Das BPatG hat uneingeschränkte Kognition als zweite Tatsacheninstanz. Für das Verfahren vor dem BPatG wird in den gesetzlichen Grundlagen wiederholt auf die ZPO verwiesen. Dr. Ströbele findet diese Verweisungen nicht optimal, und er würde eine vollständige Verfahrensordnung für das BPatG vorziehen, damit den Besonderheiten der Marken- und Patentverfahren besser Rechnung getragen werden kann.
Während das BPatG bei Beschwerden gegen Prüfungsentscheidungen als zweite Tatsacheninstanz tätig ist, ist es bei Patentnichtigkeitsklagen erste Instanz. Dem BGH ist für diese Fälle die Rolle der zweiten Tatsacheninstanz zugedacht. In Deutschland wird regelmässig kritisiert, dass der BGH diese Rolle nicht genügend wahrnehmen könne oder wolle. Auf eine entsprechende Frage eines Schweizer Seminarteilnehmers hin bejahte Dr. Ströbele klar, dass es für Patentnichtigkeitsprozesse zwei Tatsacheninstanzen brauche.
Der zweite Richter am BPatG, der für die Veranstaltung gewonnen werden konnte, Dr. Wilfried Anders, ist Vorsitzender des 20. Senats (ein Technischer Beschwerdesenat). Er ist nicht Jurist, sondern hat als Physiker abgeschlossen und promoviert. Ein technischer Richter am BPatG muss in einem Zweig der Technik sachverständig und akademisch ausgebildet sein. Im übrigen ist er ein «normaler» Richter. Als Wahlvoraussetzung gelten mindestens fünf Jahre berufliche Praxis (in der Regel als Prüfer am DPMA). Der Kontakt mit der Patenterteilungspraxis bleibt auch während der Richterkarriere erhalten. Technische Richter am BPatG kehren regelmässig in das DPMA zurück (beispielsweise als Hauptabteilungsleiter), bevor sie den Vorsitz eines Technischen Beschwerdesenats am BPatG übernehmen.
Die relativ grosse Zahl von technischen Richtern erlaubt es, das vom einzelnen Richter zu bearbeitende technische Fachgebiet eng zu halten. Dr. Anders ist der Auffassung, dass diese Art von Spezialisierung nur möglich ist, wenn mindestens 50 technische Richter am BPatG tätig sind. Nach seiner Erfahrung hat die Sachkunde der technischen Richter bisher in den allermeisten Fällen ausgereicht. Es kommt nur äusserst selten vor, dass im Verfahren vor dem BPatG ein externer technischer Experte beigezogen wird.
Die Spezialisierung der Richter auf einzelne technische Fachgebiete bringt es mit sich, dass ein Austausch zwischen den einzelnen Technischen Beschwerdesenaten sowie entsprechende Stellvertretungen nicht stattfinden. Das Zusammenwirken zwischen technisch und juristisch gebildeten Richtern wird von Dr. Anders sehr geschätzt. Die Juristen am BPatG sollten eine technische Vorbildung haben.
Im Zusammenhang mit der Geschäftslast von DPMA und BPatG erwähnte Dr. Anders, dass die «Beschwerdefreudigkeit» tendenziell abnehme. Die Patentanmeldungen am DPMA sind in den letzten Jahren noch gestiegen, während die Zahl der Patenterteilungen stagniert. Das BPatG beurteilt jährlich zirka 170 Patentverletzungsklagen, wovon zirka 65% gegen den deutschen Anteil eines europäischen Patents gerichtet sind. Als Besonderheit des Verfahrens vor dem BPatG erwähnte Dr. Anders insbesondere den Untersuchungsgrundsatz. Das BPatG überprüft uneingeschränkt, gleich wie die Prüfungsabteilung des DPMA. Das BPatG macht allenfalls sogar eine Nachrecherche nach einschlägigem Stand der Technik (theoretisch könnte das auch der BGH tun). Entsprechend können Parteivorbringen vor dem BPatG auch nicht verspätet sein. Die Technischen Beschwerdesenate können die einschränkende Neuformulierung der Patentansprüche selbst vornehmen. In der Praxis wird aber der Patentinhaber aufgefordert, die eingeschränkten Fassungen hilfsweise selbst geltend zu machen.
Zum Abschluss erläuterte Dr. Ulrich Joos einige hauptsächliche Unterschiede zwischen den Verfahren vor dem BPatG und vor den Beschwerdekammern des EPA und machte einige Anregungen im Hinblick auf das zu schaffende eidgenössische Patentgericht erster Instanz. Nach Art. 114 EPü gilt für das Verfahren vor den technischen Beschwerdekammern (wie für das Verfahren vor dem BPatG) ebenfalls der Untersuchungsgrundsatz. Diese Bestimmung wird aber immer mehr restriktiv ausgelegt. Die Geschäftsverteilung innerhalb der technischen Beschwerdekammer wird zunehmend festen Regeln unterworfen. Anders als vor dem BPatG sind bei der Geschäftsverteilung zwischen den technischen Beschwerdekammern am EPA natürlich auch sprachliche Kriterien zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die Verfahrensordnung eines künftigen eidgenössischen Patentgerichts regte Dr. Joos an, dass der Beibringungsgrundsatz im Gesetz verankert werden sollte. Bezüglich der Verfahrensordnung riet er, die Regelung unter dem EPLA (European Patent Litigation Agreement) zu prüfen.



*Rechtsanwalt, Zürich.
**dipl. Ing. ETH; Dr iur. Rechtsanwalt, LL.M., Zürich.
***lic. iur., Redaktionsleiterin sic!, Zürich/Bern.
****  Dr. iur., Rechtsanwalt, LL.M., Genf.
1Entscheidung T 1173/97-3.5.1 (Computerprogrammprodukt/IBM; ABI. EPA 1999, 609); Entscheidung T 1194/97-3.5.2 (Datenstrukturprodukt / Philips; ABl. EPA 2000, 525); Entscheidung T 931/95-3.5.1 (Steuerung eines Pensionssystems / PBS Partnership; ABl. EPA 2001, 441); Entscheidung T 641/00-3.5.1 (Zwei Kennungen / Comvik; ABl. EPA 2003, 319).


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