sic! 2002 Ausgabe 2
PHILIP KÜBLER*

Recht auf Information vs. Recht auf Privacy - Tagung des Schweizer Forum für Kommunikationsrecht vom 27. November 2001

Schweizer Forum für Kommunikationsrecht / Forum Suisse pour le Droit de Communication

Der Begriff «Spannungsverhältnis» war in allen Köpfen und in aller Munde, als sich am 14. November 2001 im Lake Side Casino Zürichhorn am Zürcher Seeufer Referenten und Meinungsführer des Medienrechts und der Medienpolitik trafen. Es ging um die Frage nach der Abwägung zwischen dem Prinzip Öffentlichkeit und dem Prinzip Privatheit. Unter der Leitung von Dr. Mathis Berger diskutierten vor rund drei Dutzend Besuchern zwei Bundesrichter, vier Rechtsprofessoren, ein auf pathologische Medienwirkungen spezialisierter Medizinprofessor, eine Politikerin und drei Vertreter der Medienbranche. Angelpunkt der Diskussion war das Urteil des Bundesgerichts vom 1. Mai 2001 (BGE 127 IV 122), in welchem das Gericht die Verurteilung eines Journalisten wegen Anstiftung zur Amtsgeheimnisverletzung bestätigt hat (Fall Dammann). Das Tagungsprogramm war in die Abschnitte «Perspektiven» und «Meinungen» unterteilt.

Referenten aus Justiz, Rechtswissenschaft und Medizin
Prof. Dr. Martin Schubarth verteidigte das Urteil – als einer der im Fall Dammann beteiligten Bundesrichter – gegen die Empörung aus Medienkreisen. Der Referent warf den Kritikern vor, bei der Berichterstattung über das Urteil wesentliche Fakten vorenthalten zu haben. Der Protest sei voreilig. Das Bundesgericht habe nicht gesagt, jede an eine Amtsperson gerichtete Frage sei bereits ein Versuch, diese Person zur Amtsgeheimnisverletzung anzustiften. Es komme auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. Die Frage des Journalisten sei gezielt auf geheime Inhalte des Strafregisters gerichtet gewesen. Der bestrafte Medienschaffende sei ein im Justizbereich erfahrener Recherchierer. Ob Vorstrafen von Festgenommenen ausnahmsweise offengelegt werden, entscheide ausschliesslich die Verfahrensleitung. Der Journalist habe gewusst, dass der betreffende Bezirksanwalt keine solche Ausnahme machen wollte. Trotzdem habe er die Verwaltungsassistentin der Staatsanwaltschaft befragt und ihr überdies einen Fax mit den Namen der Personen geschickt, für deren mögliche Vorstrafen er sich interessierte. Fragen stellen sei also nicht grundsätzlich verboten, was sich auch aus der amtlichen Regeste zum Entscheid ergebe. Das Bundesgericht habe am Ende von Erwägung 4 sogar ein Signal gegeben, wonach die gleiche Frage an den zuständigen Bezirksanwalt eher keine Anstiftung gewesen wäre. Schubarth schloss mit einigen Gedanken zum Begriff der Anstiftung, welche eben unter Umständen auch durch eine Frage begangen werden könne, und mit der rhetorischen Frage, ob es die Journalisten oder nicht vielmehr die Organe der Rechtsordnung seien, welche über die Grenzen der Recherche und der Privatsphäre zu entscheiden haben.
Ein Schwerpunkt der psychosozialen und psychoanalytischen Tätigkeit von PD Dr. med. Mario Gmür sind die psychischen und medizinischen Folgen bei Menschen, die von aggressiver Publizistik betroffen sind. Seit einigen Jahren beschreibt der Autor verschiedener Veröffentlichungen – für 2002 ist ein Buch mit dem Titel «Der öffentliche Mensch» geplant – ein so genanntes Medienopfersyndrom (MOS). Nach Gmür können psychopathologische Folgen der Medientätigkeit Belastungs- und Anpassungsstörungen gleichkommen, wie sie in der psychiatrischen Krankheitslehre bekannt sind. Die internationale Klassifikation psychischer Störungen (von «Krankheit» wird nicht gesprochen) unterscheidet akute Belastungsreaktionen (denkbar z.B. bei Angehörigen eines Geiselopfers), posttraumatische Belastungsstörungen (z.B. bei Überlebenden oder Zeugen von Attentaten) und sogenannte Anpassungsstörungen (z.B. einer entlassenen Arbeitnehmerin). Die Besonderheit des MOS liege in der aggressiven verletzenden Publizistik. Auf der Anklagebank sässen Sensationsjournalismus, Paparazzi-Methoden, Hetz- kampagnen, Verletzungen der Privat- und Intimsphäre. Problematisch seien die Skandalisierung privater Verhältnisse, die Intimisierung der Politik, Moralisierung und Betroffenheitskult, aggressiver Tonfall, Vorverurteilung und Tribunalisierung – wobei die Beurteilung dieser Erscheinungen nicht Sache der Medizin, sondern Sache der Publizistikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Ethik sowie der Rechtsetzung und Rechtsprechung sei. Die Medientätigkeit führe zu einer charakteristischen Täter-Opfer-Dynamik. Abschliessend machte Gmür den Medien drei ärztliche Gebote beliebt: Niemandem schaden. Richtig dosieren. Nebenwirkungen vermeiden.
Prof. Dr. Rainer Schweizer beleuchtete das Tagungsthema aus verfassungsrechtlicher Perspektive. Zunächst stellte der Referent die Auffächerung der Bereiche Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz in der neuen Bundesverfassung dar. Die Informationsfreiheit betreffe nur allgemein zugängliche Quellen des Staates. Die Gemeinwesen hätten zudem eine Ausschaltungskompetenz; sie seien befugt, den Umfang der Informationsrechte der Privaten gegenüber dem Staat zu bestimmen. Das sei ein unbefriedigender Zustand, der durch einzelne Rechte der Privaten (z.B. Verfahrensrechte, Akteneinsichtsrecht, Informationsanspruch der Stimmberechtigten, Bundesratsinformationen gemäss Art. 93 BV) nicht behoben werde. Im europäischen Rahmen seien die Praxis zur EMRK (aus Grundrechten abgeleitete staatliche Schutz- und Informationspflichten bei ökologischen und gesundheitlichen Gefährdungen) und die von der Europäischen Union verfolgte Amtsöffentlichkeit (EU-Grundrechts- charta) wegweisend. Auch auf rechts- gleiche Nutzungmöglichkeiten neuer Technologien (Internet) sei zu achten. Zum Thema der Geheimhaltung von Behördeninformationen sei danach zu unterscheiden, ob der Staat eigene Geheimnisse (z.B. Standort einer militärischen Einrichtung) oder private Geheimnisse (z.B. Vorstrafenberichte) schützt. Im Bereich eigener Geheimhaltungsinteressen sei der Staat erfinderisch, indem er sich etwa auf die aussenpolitische Handlungsfähigkeit, die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die Sicherheitslage, den Staatsschutz, den öffentlichen Gesundheitsschutz, die Finanz- und Währungsinteressen, den Aussenhandel etc. berufe. Im Bereich der behördlichen Entscheidungsverfahren (parlamentarische Kommissionen, Regierungssitzungen, Gerichtsverfahren) gehe es indessen nicht einmal um sachbezogene Geheimhaltungsinteressen, sondern um ein Verfahrensprinzip. Pikant sei, dass politische Akteure dieses Geheimhaltungsgebot zuweilen selber verletzten. Schweizer rät, angesichts dieser ungleichen Spiesslänge in einem Amtsöffentlichkeitsgesetz saubere Grenzen zwischen Amtsgeheimnissen und Informationspflichten zu ziehen, ohne die Behördenautonomie aufzuheben, soweit eigene behördliche Geheimnisse betroffen sind.
Prof. Dr. Marcel Niggli war für die strafrechtliche Perspektive zuständig. Für das Strafrecht seien grundsätzlich alle Informationen öffentlich, ausser das Strafgesetz selbst beschränke diese Öffentlichkeit. Solche Beschränkungen seien im Strafgesetzbuch und im Nebenstrafrecht zu finden. Was BGE 127 II 122 betrifft, so sei die vom Bundesgericht erneut bejahte Teilnahme (Anstiftung) am echten Sonderdelikt zunächst nicht selbstverständlich. Ferner sei eine Frage nicht immer dasselbe, in ihr könne je nach Sprechsituation auch etwas anderes liegen, etwa eine Aussage oder eine Aufforderung. Eine Frage könne eine Antwort auslösen, die der Frager nicht gewollt hat. «Ohne Frage keine Antwort» sei daher als Begründung einer Tatbestandserfüllung ungenau. Heikel sei auch der bundesgerichtliche Umgang mit dem Eventualvorsatz. Er sei nicht das gleiche wie «in Kauf nehmen», sondern es müsse sich gemäss Rechtslehre um ein billigendes Inkaufnehmen handeln.
Auch Prof. Dr. Franz Riklin äusserte Kritik an BGE 127 II 122, wie er dies bereits in der Zeitschrift Medialex getan hat (Medialex 3/01, 160 ff.). Riklin rückt die besondere Rolle der Medien im demokratischen Staat ins Zentrum. Das Strafrecht sei für die Konfliktregelung im Medienbereich schlecht geeignet. Es sollte die Grundwerte der Gesellschaft schützen und nur subsidiären Einsatz finden. Das neue Urteil bedeute, einem langjährigen Trend in Rechtssetzung und Rechtsprechung folgend, eine übermässige Kriminalisierung der journalistischen Arbeit. Hinzu komme die Unschärfe vieler Strafnormen, besonders in ihrer Anwendung auf Mediensachverhalte. Die bereits im Lehrbuch (F. Riklin, Schweizerisches Presserecht, Bern 1996) genannten Beispiele ergänzte der Referent durch den Hinweis auf Unsicherheiten des medientypischen Rechtfertigungsgrundes der «Wahrung berechtigter Interessen»: Gemäss Praxis des Bundesgerichts müsse die Tat erstens ein zur Erreichung des berechtigten Ziels notwendiges und angemessenes Mittel sein, zweitens diesbezüglich den einzig möglichen Weg darstellen und drittens offenkundig weniger schwer wiegen als die Interessen, die der Täter zu wahren sucht (BGE 120 IV 213). Das Kriterium des «einzig möglichen Wegs» sollte laut Riklin im Einzelfall abgeschwächt werden. Das zeigten etwa Fälle im Zusammenhang mit Nachforschungen, welche Tierschützer oder Journalisten auf der Suche nach Tierquälereien anstellten (objektiv Hausfriedensbruch, als «einzig möglicher Weg» unter Umständen fragwürdig). Zu hoffen wäre, dass Konflikte häufiger auf der zivilrechtlichen Ebene gelöst würden, etwa mittels Gegendarstellung. Zu denken sei auch an eine Ausdehnung der zivilrechtlichen Schutzmittel, welche in ihrer heutigen Anwendung einige Lücken aufwiesen, etwa im Bereich der Geldentschädigung für Persönlichkeitsverletzungen. In bundesgerichtlichen Urteilsbegründungen gelte im Übrigen wie anderswo der Grundsatz «c’est le ton qui fait la musique». Der abschätzige Tonfall in einzelnen Bundesgerichtsurteilen grenze zuweilen selber an eine unnötige Herabsetzung, so namentlich im Urteil Gerig/Gasser vom 16. August 2001, in dem gesagt wird, es dränge sich auf, dass der Medienschaffende eine Beeinträchtigung der Wettbewerbsstellung des Betroffenen nicht nur in Kauf genommen, sondern geradezu angestrebt habe, und dass der Zweck des Artikels in erster Linie darin bestanden habe, zur Unterhaltung des Leserpublikums zwecks Steigerung der Auflage den Betroffenen fertig zu machen. Das Bundesgericht solle, so Riklin, mit solchen Äusserungen zurückhaltend sein. Und die höchstrichterliche Strenge mit den Medien sei durch das Gesetz nicht immer vorgegeben.
Prof. Dr. Bertil Cottier war für die rechtsvergleichende Perspektive zuständig. Er suchte im Ausland nach gesetzlichen Lösungen des Spannungsverhältnisses zwischen Informationstransparenz und Privacy. Während Schweden aus historischen Gründen der Transparenz den Vorzug gebe, räumten Italien und Ungarn der Privatsphäre den ersten Rang ein. Die meisten Rechtsordnungen hätten einen Kompromiss gewählt. Dieser könne drei unterschiedliche Formen annehmen: Entweder werde das Akteneinsichtsrecht durch eine Interessenabwägung im Einzelfall geregelt, wobei der Auskunftszweck eine Rolle spiele (Beispiel Brandenburg). Oder der betreffende Staat normiere das Auskunftsrecht anhand einer möglichst erschöpfenden Liste von Dokumenten- und Informationstypen, sei es als Positivliste (Beispiel Québec) oder als Negativliste (Beispiel Frankreich). Cottier stellte fest, dass Québec mit seinem Modell eine gute Rechtssicherheit erreiche. Die aufgelisteten Informationen, nämlich solche aus bestimmten Staat-Bürger-Beziehungen (Vertragsbeziehungen, Bewilligungen, Finanzierungshilfen etc.), seien aufgrund des charakteristischen Korruptionsrisikos zu Recht vom Grundsatz der Privacy ausgenommen. Zudem sähen alle drei Modelle vor, die Privatsphäre von Betroffenen wenn nötig durch Anonymisierung zu schützen («caviardage»). Ergänzend seien einzelne Gemeinwesen dazu übergegangen, die politische Betreuung des Datenschutzes einerseits und des Akteneinsichts- bzw. Amtsöffentlichkeitsrechts anderseits dem gleichen Organ zu übertragen (Berlin, Brandenburg, Grossbritannien und Québec). Québec habe sogar die notwendige Fusion beider gesetzlichen Grundlagen zustande gebracht (Loi sur l’accès aux documents des organismes publics et sur la protection des renseignements personnels). Übrigens habe es laut Cottier auch in Schweden Journalisten gegeben, die sich – im Zusammenhang mit einem Kunstraub – bei einem Behördenmitarbeiter nach Vorstrafen erkundigt hatten. Sie erhielten die Antwort ohne Umschweife, denn Criminal Records seien in der Negativliste des Secrecy Act nicht erwähnt. Cottier schloss mit dem Hinweis, dass die Informationsfreiheit nicht von der Wahrung der journalistischen Ethik entbinde.

Panelisten und Diskussion
Die weiteren Diskussionsteilnehmer auf dem Podium beleuchteten jeweils ihren persönlichen oder beruflichen Standpunkt. Es handelte sich um Dr. Lucrezia Meier-Schatz (Nationalrätin), Dr. Andreas Meili (Tamedia AG), Bundesrichter Franz Nyffeler, Rainer Stadler (NZZ) und Dr. Peter Studer (Präsident Presserat). Das Bundesgericht müsse die Medien- und Informationsfreiheit sowie Artikel 10 der EMRK stärker beachten (Meili, Studer). Artikel 10 der EMRK sei eben kein Auftrag an das Bundesgericht, sondern – falls erwünscht – Aufgabe der Politik (Schubarth), und es seien im Gegenteil die Persönlichkeitsrechte, welche man vor Erosion schützen müsse (Nyffeler). Das Recht auf Vergessen von Vorstrafen sei in der Kritik der Mediengemeinschaft am Bundesgerichtsurteil etwas untergegangen (Stadler). Richterliche Vorwürfe an die Medien, sie würden im Interesse der Unterhaltung und Auflagensteigerung handeln, seien nicht gerecht (Meili), denn insgesamt führe der Medienwettbewerb bekanntlich zu besseren gesellschaftlichen Ergebnissen (Riklin). Die Medien dürften aber nicht politische Interessen zur Ausforschung der Privatsphäre vorschieben (Meier-Schatz).
Die Arbeitsteilung der Rechtsgelehrten und die Interessenbindung der Diskussionsteilnehmer brachte eine zu Beginn nützliche Gliederung des Themas mit sich, stellte sich dann aber als Hindernis für grundsätzliche Überlegungen heraus. Das Publikum hätte die Schnittmengen und Schnittstellen der betroffenen Rechtsgebiete und Rechtsgüter wohl gerne näher untersucht gesehen. Diesem Forscherinteresse kamen die etwas langfädig tadelnden Worte zwischen Bundesgericht und Medien(haus) nicht entgegen. Dabei hatten die Professoren Schweizer und Cottier das Feld in ihren Referaten bereitet, das war eine Chance, die das Panel nicht genügend nutzen konnte.







* Dr. iur., Rechtsanwalt, LL.M., Zürich.



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