sic! 2002 Ausgabe 4
MARTIN SCHUBARTH*

Der Journalist als Medienopfer

Der vorliegende Beitrag beruht auf Überlegungen des Verfassers im Anschluss an die Tagung des Schweizer Forum für Kommunikationsrecht vom 14. November 2001 zum Thema: Recht auf Information vs. Recht auf Privacy (Die Medien im Spannungsfeld sich widersprechender Interessen). Eingegangen wird auf die Thesen, dass Journalismus ein besonders gefährlicher Beruf sein soll und dass (darum?) der Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen vermehrt auf journalistische Tätigkeiten angewandt werden soll.

Cet article reprend les réflexions de son auteur faites à l'issue de la journée du Forum Suisse pour le Droit de la Communication du 14 novembre 2001 sur le sujet "droit à l'information c. droit à la sphère privée (Les médias au milieu d'intérêts contradictoires)". L'auteur prend comme point de départ la thèse selon laquelle le journalisme constituerait une profession particulièrement dangereuse et qu'ainsi, le fait justificatif tiré de la sauvegarde d'intérêts légitimes devrait être appliqué plus fréquemment aux activités professionnelles du journaliste.

1. An der Tagung wurde die Auffassung vertreten, aus strafrechtlicher Sicht gebe es zwei besonders gefährliche Berufe, nämlich Berufschauffeure und Journalisten. Unterstellt, dass diese These stimmt, drängt sich allerdings folgende Frage auf: Weshalb ausgerechnet diese beiden Berufe? Eine mögliche (und vielleicht sogar sehr wahrscheinliche) Antwort: Weil in beiden Berufen häufig die Grenzen der Rechtsordnung bewusst ausgereizt werden, möglicherweise nicht nur ausgereizt, sondern in den Grauzonen bewusst jeweils ein bisschen überschritten werden. Dabei sei in Bezug auf die beide Berufsgattungen beiseite gelassen, ob die «Täter an der Front» wirklich die Hauptverantwortlichen sind oder etwa die Unternehmen, für die sie arbeiten (vgl. dazu BGE 118 IV 319 E. 4 und M. Schubarth, ZStrR 1995, 159).
Berufschauffeure arbeiten für Unternehmen, die in einem gewinnorientierten Konkurrenzkampf stehen. Das Ziel jedes Transportunternehmens ist es, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Ware mit möglichst wenig Unkosten zu transportieren. Dies bedeutet: Der Unternehmer, der seine Leute grundsätzlich immer mit einer Geschwindigkeit fahren lässt, die um 10 Prozent zu hoch ist; der das zulässige Maximalgewicht stets um 10 Prozent überschreitet; der es auch in Bezug auf andere Vorschriften wie etwa die Ruhezeitverordnung ähnlich genau nimmt; der auch die Entdeckungswahrscheinlichkeit in Bezug auf einen Verstoss gegen die Verordnung über den Transport gefährlicher Güter in seine betriebswirtschaftliche Rechnung einkalkuliert; dieser Unternehmer hat erhebliche wirtschaftliche Vorteile (und provoziert damit zugleich seine Konkurrenten zum gleichen Verhalten). Insbesondere, wenn man ständig damit spekuliert, gerade noch an der Grenze der Toleranz zu fahren oder zu laden etc., entsteht natürlich das Risiko, dass diese Toleranz überschritten wird und dann, wenn man erwischt wird, bestraft wird. Es sei den Medieninsidern überlassen, den hier für Berufschauffeure entwickelten Gedankengang auf Medienschaffende zu übertragen. Diese Überlegungen zeigen, dass die Rechtsordnung und die Rechtsprechung tun kann, was sie will: Es wird immer Berufsgruppen geben, die in den Grenzbereichen mit dem Feuer spielen. Wenn man, um beim Beispiel der Überlast zu bleiben, den Toleranzbereich im Hinblick auf die Irrtumsmöglichkeit erweitert, wird es sofort Unternehmen geben, die entsprechend systematisch immer schwerer laden – denn aus ökonomischer Sicht wäre es ein Unfug, dies nicht zu tun. Entsprechendes wird man sagen können für die im Anschluss an BGE 127 IV 122 diskutierte Frage, unter welchen Voraussetzungen die Anfrage eines Journalisten an eine Amtsperson nach einem Amtsgeheimnis als Anstiftung zur Amtsgeheimnisverletzung zu betrachten ist: Man kann die Grenzen in der Rechtsprechung ziehen, wo man will; im Zeitalter des cleveren Recherchierjournalismus wird es immer Journalisten geben, die diese Grenze solange ausreizen, bis sie sie überschreiten und dann vermutlich erwarten, dass man die Grenze zu ihren Gunsten noch weiter hinausschiebt.

2. Es wurde die Frage aufgeworfen, weshalb denn der Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen vom Bundesgericht nicht stärker zu Gunsten der Medienschaffenden herangezogen werde, so vor allem im Blick auf den Fall des Journalisten, der gemeinsam mit einer Gruppe von Flüchtlingen rechtswidrig in die Schweiz einreiste, um Informationen aus «erster Hand» zu sammeln und einen Artikel über das Schicksal der heimlich auf Schweizer Boden weilenden Personen zu veröffentlichen (BGE 127 IV 166). So wurde gesagt, im Lichte der Grundsatzentscheidung zur Wahrnehmung berechtigter Interessen (BGE 117 IV 170) hätte man im Fall dieses Journalisten ebenfalls unter Rückgriff auf diesen Rechtfertigungsgrund freisprechen können (vgl. dazu auch F. Riklin, medialex 201 175).
a) Wer so argumentiert, sollte sich die Mühe nehmen, die Einzelheiten des Sachverhaltes herauszuarbeiten, die damals das Bundesgericht veranlasst haben, den Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen ausnahmsweise zur Anwendung zu bringen. Worum ging es im damaligen Fall? Um einen Staatenlosen ohne Schriften, der unter Vorweisung eines gefälschten ausländischen Passes in die Schweiz einreiste, um hier die Eheschliessung mit einer Schweizerin, der Mutter seiner im Zeitpunkt der Einreise 11/2-jährigen Tochter, vorzubereiten, nachdem verschiedene Anstrengungen, die Bewilligung für die Einreise bzw. die erforderlichen Papiere zu erhalten, erfolglos geblieben waren, bis zur Erreichung dieses Ziels jedenfalls noch einige Zeit verstrichen wäre, und dem Täter die Lage hoffnungslos schien. In jenem Fall war offensichtlich entscheidend, dass die Behörden das Problem nicht zu lösen im Stande waren, wie ein schriftenloser Staatenloser (frei nach Brecht: «Es gibt kein grösseres Verbrechen auf dieser Welt, als keine Schriften zu haben») auf legale Weise in die Schweiz einreisen kann, um die dort wohnende Mutter seines inzwischen 11/2-jährigen Kindes zu heiraten. In jenem Fall war davon auszugehen, dass bis zur illegalen Einreise andere Versuche, auf legalem Wege die Erlaubnis zur Einreise erhalten, gescheitert waren und es überdies nicht abzusehen war, wann endlich die Behörden einen legalen Weg finden würden. Etwas vereinfacht: Beweismässig war davon auszugehen, dass der Täter sich zunächst um legale Alternativen bemüht hatte und dass insbesondere das zeitliche Moment (lange erfolglose Versuche und die Ungewissheit, wann endlich eine legale Einreise möglich sei) eine grosse Rolle gespielt haben und überdies auch das angestrebte Ziel: Heirat mit der Mutter des Kindes (also ein verfassungsmässiges Recht, für das es über die gesetzlichen Ehehindernisse hinaus keine Einschränkung geben darf). Im Fall des Journalisten sind demgegenüber keine vergleichbaren Momente enthalten. Es wurde nicht festgestellt (und ist wohl auch nicht geltend gemacht worden), dass der Journalist versucht hatte, auf andere Weise sich die nötigen Informationen zu beschaffen. Auch das Moment der zeitlichen Dringlichkeit fehlte. (Formalistisch könnte man im Übrigen auf die für das Bundesgericht verbindlich getroffene Feststellung der Vorinstanz verweisen, wonach dem Täter andere Mittel zur Verfügung gestanden seien, was der Journalist – wohl aus guten Gründen – nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde in Frage gestellt hat.)
Ein Vergleich der einzelnen Sachverhaltsmerkmale des leading case BGE 117 IV 170 mit dem neuen Fall des Journalisten zeigt also, dass unterschiedliche Sachverhalte zur Diskussion standen, weshalb im neueren Fall eine Berufung auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen abgelehnt wurde.
b) Dennoch sei die Frage gestellt: Welches wären denn die Konsequenzen eines gegenteiligen Entscheides gewesen, also etwa dann, wenn das Bundesgericht die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes der Wahrnehmung berechtigter Interessen bejaht hätte mit der Begründung, es sei nicht ersichtlich, auf welchem anderen Wege als in der Form einer illegalen Einreise (in Begleitung der Flüchtlinge), eine hautnahe Berichterstattung darüber möglich sei, was Flüchtlinge im Zusammenhang mit einem solchen illegalen Grenzüberschritt erleben? Hätte ein solcher Entscheid nicht die Gefahr heraufbeschworen, dass in Zukunft jeder Journalist, wenn er im Rahmen seiner Tätigkeit etwas Illegales tut, sich auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen beruft? Oder nochmals anders gefragt: Wie hätte man im Fall des italienischen Journalisten den genannten Rechtfertigungsgrund so einschränken können, dass seine Berufsgenossen nicht bei jeder Gelegenheit sich pauschal auf diesen Rechtfertigungsgrund berufen werden? Darauf hat bis heute niemand eine Antwort gegeben. Das ist vielleicht bezeichnend für eine Zeit, wo Vertreter der Medienethik und der Medienschulung nicht müde werden, einseitig Pressefreiheit und Recherchierfreiheit zu predigen, ohne ein Wort über deren Grenzen zu verlieren und ohne laut darüber nachzudenken, wie man diese Grenzen ziehen müsste.
c) Ein weiterer Gesichtspunkt: Urteile des Bundesgerichts entstehen immer auch im Umfeld der allgemeinen, hier medienrechtlichen Diskussion. Es gibt für den Richter – etwas vereinfacht gesagt – grundsätzlich zwei Alternativen: Entweder gibt man dem Mediendruck nach und folgt der gelegentlich von Medienschaffenden vertretenden Auffassung, dass aus der Realität der von Medienschaffenden praktizierten Recherchiermethoden auch auf deren Rechtmässigkeit zu schliessen ist. Oder man sagt umgekehrt: Wehret den Anfängen. Deutlicher formuliert (insbesondere an die Adresse der Medienrechtler und Medienpraktiker): Solange von Seiten der Medien nicht Ausnahmecharakter der Wahrnehmung berechtigter Interessen betont und akzeptiert wird, fällt es dem Richter schwer, in einem Fall wie dem unseres Journalisten, den kleinen Finger zu geben. Denn das Risiko, dass damit Tür und Tor geöffnet würden, ist nicht von der Hand zu weisen. Was tun, wenn ein Journalist sagt, es bestehe ein berechtigtes Interesse daran zu wissen, wie es etwa in den geheimen Beratungen des Kassationshofes zugeht, und wenn er nun in Wahrnehmung dieser von ihm definierten (angeblich) berechtigten Interessen sich in eine geheime Beratung einschleicht oder mit Hilfe technischer Mittel mithört? Unzählige andere Konstellationen, die der Phantasie des Lesers überlassen seien, sind denkbar.
Unter dem Gesichtspunkt «Wie entsteht ein Urteil?» sei im Zusammenhang mit den hier angestellten Überlegungen bemerkt, dass für den Richter das allgemeine Medienumfeld bei der Entscheidfindung in Grenzfällen eine Rolle spielen kann. In einer Zeit, wo der Richter den Eindruck hat, dass die Medien verantwortungsvoll mit ihrer Aufgabe umgehen, wird die Entscheidung möglicherweise anders fallen, als in einer Zeit, wo man den Eindruck haben muss, dass die Grenzen der Rechtsordnung allzu oft ausgereizt werden und überdies gelegentlich Medienschaffende zum Ausdruck bringen, sie seien berechtigt, sich ihre eigene, teilweise extralegale Medienrechtsordnung zu «recht» zu legen.

3. Grundrechte gelten nie absolut. Sie können insbesondere in Kollision geraten mit anderen Grundrechten – offenbar eine Selbstverständlichkeit, weshalb Grundrechtskollisionen in der schweizerischen Staatsrechtslehre eher nur am Rande thematisiert werden. Der verfassungsrechtliche Persönlichkeitsschutz (dazu R. J. Schweizer in: D. Thürer et al. (Hg.), Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001, 691 ff.) ist mindestens so bedeutsam wie die Presse- und Recherchierfreiheit (vgl. jetzt BGE 127 I 145 E.

4. Die Bedrohung der Persönlichkeit durch die Massenmedien und das neuerdings auf Grund von konkreten massiven Persönlichkeitsverletzungen diskutierte Medienopfersyndrom (dazu M. Gmür, Schweiz. Ärztezeitung 1999, 80; Schweizer Monatshefte 2001/6) ist eines der zentralen Probleme der heutigen Zeit, das auf Grund der heute bestehenden Medienmacht häufig vernachlässigt wird. Und so ist es wohl kein Zufall, dass ein Nationalratspräsident in seiner Abschiedsrede einen entsprechenden Hinweis macht und darauf spontanen Applaus des Ratsplenums erhält. Und vielleicht sollte man auch auf Antwort auf die These: «Journalismus = ein gefährlicher Beruf» auch erwidern: Journalisten haben ihren Beruf selbst gewählt, und was sie im Falle einer Verurteilung erleiden müssen, steht in keinem Verhältnis zu dem, was Medienopfer durchmachen müssen, die ihre Opferrolle in der Regel nicht gewählt haben. Sie wird ihnen gegen ihren Willen aufoktroyiert.



* Bundesrichter, Prof. Dr., Präsident des Kassationshofes, Lausanne/Basel.



Fenster schliessen