sic! 2002 Ausgabe 4
ANDREAS WELCH*/CHRISTOPH MÜLLER**

Patente - Quo vadis? - Eine Erwiderung

Der Artikel von Frauenknecht1 verspricht mit seiner Überschrift Antworten und Konsequenzen zum Thema Patente. Er soll im Folgenden kritisch analysiert und - wo nötig - richtig gestellt werden. Nach Auffassung der Autoren ist das von Frauenknecht entwickelte Szenario eines Paradigmenwechsels nicht zutreffend. Dadurch werden falsche Ängste und Erwartungen im Hinblick auf die Zukunft des Patentwesens geweckt. Die vorliegende Erwiderung befasst sich ausschliesslich mit der Situation in Europa. Auf die - teilweise - unterschiedliche Situation in den USA soll nicht eingegangen werden.

Dans son titre, l'article de Frauenknecht1 promet des réponses et des conclusions concernant l'avenir des brevets. Les considérations qui suivent se proposent d'analyser cet article, et d'y apporter des rectificatifs là où c'est nécessaire. De l'avis des auteurs, le scénario d'un changement de paradigmes, tel que développé par Frauenknecht, n'est pas fondé. En effet, les craintes qui ont été suscitées au sujet de l'avenir des brevets ne sont pas justifiées. Cette réfutation ne se rapporte qu'à la situation en Europe. La situation concernant les USA, qui est - en partie - différente, n'est pas traitée.



I.  Änderung im Rechtsdenken?
II. Paradigmenwechsel in der Patentierbarkeit?
    
1. Chemische Stofferfindungen und Arzneimittel
    2. Biotechnologische Erfindungen
    3. Softwarepatente und Patente betreffend Geschäftsmethoden
Zusammenfassung / Résumé


I. Änderung im Rechtsdenken?
A. Frauenknecht beginnt seinen Aufsatz mit einem Verweis auf eine angeblich über Jahrhunderte weg herrschende Kontinuität des Patentwesens, zumindest hinsichtlich der diesem zugrundeliegenden Philosophie. In Deutschland existiert ein diesen Namen verdienendes Patentgesetz erst seit 1877, in der Schweiz sogar erst seit 18882. Vor diesen Gesetzen gab es zwar vereinzelte Ansätze (z.B. Gesetz von 1801 in der Schweiz3) zur Regelung des Patentwesens, die aber im Wesentlichen keine praktischen Auswirkungen hatten. Eine jahrhundertelange Kontinuität des Patentrechts ist also angesichts der blossen Fakten zumindest für die Schweiz und Deutschland nicht auszumachen. Im Gegensatz zu der von Frauenknecht geäusserten Auffassung waren die Regelungen des Patentrechts – angesichts der unmittelbaren Auswirkungen desselben auf das wirtschaftliche Leben nicht überraschend – schon immer von der politischen Wetterlage geprägt. Patentfreundliche und patentfeindliche, von der Angst vor wettbewerbsbehindernden Monopolen geprägte Zeiten wechselten sich stetig ab. Sie sind beispielsweise in der Haltung der verschiedenen US-Regierungen zum Patentwesen im 20. Jahrhundert deutlich auszumachen4. Ende des 19. Jahrhunderts, als in den meisten europäischen Staaten Patentgesetze erlassen wurden, herrschte eine deutlich patentfeindlichere Stimmung als über weite Abschnitte des 20. Jahrhunderts. Im Zuge des Aufkommens der Biotechnologie hat sich bei einem Teil der Bevölkerung aufgrund der Angst vor «Patenten auf Leben» wieder eine patentfeindlichere Haltung etabliert.

II. Paradigmenwechsel in der Patentierbarkeit?
Worauf stützt sich nun die These eines Paradigmenwechsels? Frauenknecht führt hierzu mehrere Bereiche an. Diese sollen im Folgenden im Hinblick auf seine Thesen geprüft werden.

1. Chemische Stofferfindungen und Arzneimittel
Frauenknecht erkennt erste Ansätze für einen Paradigmenwechsel in der Patentierbarkeit als Folge der 68er-Bewegung. Diese Hypothese ist nach Ansicht der Autoren bei genauerer Betrachtung nicht aufrechtzuerhalten: Die von ihm hierzu exemplarisch genannte Einführung des Stoffschutzes für chemische Erfindungen in Deutschland wurde bereits mit dem Patentänderungsgesetz von 1967 – also vor der 68er-Bewegung – verankert. Entsprechende Vorarbeiten reichen noch weiter zurück5. Auch ist kein Einfluss der 68er-Bewegung auf die Entstehung des Europäischen Patentübereinkommens erkennbar. Es sei daran erinnert, dass die wesentliche Harmonisierung des materiellen Patentrechts in Europa bereits durch das Strassburger Übereinkommen von 1963 erfolgte. Das EPÜ selbst wurde auf der Münchner Konferenz 1973 vollendet. Das materielle Patenrecht wurde mehr oder weniger wörtlich aus dem Strassburger Übereinkommen übernommen6. Zudem nahmen die Vertreter der 68er-Bewegung bekannterweise eine patentkritische Haltung ein. Die 68er-Bewegung als Auslöser einer «Aufweichung» der Patentierungsvoraussetzungen zu bezeichnen, wird weder den Intentionen dieser Bewegung noch den Vätern des dPatG 68 bzw. des EPÜ gerecht7.
Frauenknechts weitere Ausführungen zu den damals vorgenommenen Änderungen sind ebenfalls korrekturbedürftig. Durch diese Änderungen wurden auch Arzneimittel grundsätzlich dem Patentschutz zugänglich. Frauenknecht scheint an dieser Stelle dem auch im Singer / Stauder angesprochenen Missverständnis verfallen zu sein, durch den Ausschluss von Heilverfahren sei auch die Patentierung der in diesen Verfahren benutzten Erzeugnisse ausgeschlossen8.
An dem von Frauenknecht gewählten Beispiel der Einführung des Stoffschutzes für chemische Verbindungen lassen sich mehrere seiner Thesen/Befürchtungen im Hinblick auf angebliche Paradigmenwechsel widerlegen. Der langjährige Vorsitzende des X. Zivilsenats des BGH, Karl Bruchhausen, hat in einem Aufsatz9 ausführlich den Werdegang der Patentierbarkeit chemischer Erfindungen in Deutschland nachgezeichnet. Daraus wird deutlich, dass die Ausnahmeregelung für chemische Erfindungen in erster Linie nicht auf materiell patentrechtlichen Überlegungen des Gesetzgebers beruhte, sondern auf wirtschaftlichen Erwägungen. Die chemische Industrie selbst hatte aus Furcht vor übermächtigen Monopolen den Ausschluss der Patentierung chemischer Stoffe im ersten Deutschen Patentgesetz von 1877 durchgesetzt. Erst rund 90 Jahre später wurde dieser «seit langem als Irrweg erkannte Weg» (Zitat Bruchhausen) nicht länger beschritten, sondern die rechtlich nicht begründbare Sonderstellung der chemischen Stoffe aufgegeben. Im Gegensatz zur Auffassung von Frauenknecht wurde hiermit nicht dem Lobbying der chemischen Industrie Rechnung getragen, sondern vielmehr ein auf einem solchen Lobbying beruhender rechtlicher Missstand beseitigt. Die seither geltende Regelung führte zu einer Gleichbehandlung von chemischen Erfindungen mit Erfindungen aus anderen technischen Bereichen. Dieser Schritt war alles andere als ein Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Philosophie des Patentwesens, sondern eine längst überfällige Korrektur mit nicht ersichtlichen negativen Auswirkungen auf Wirtschaft oder Patentämter.
Hat dies zu einer Überforderung des Patentwesens bzw. der Patentämter geführt? Diese Frage kann rund 30 Jahre nach Einführung des Stoffschutzes für chemische Erfindungen eindeutig verneint werden. Mit der Einführung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel10 und Pflanzenschutzmittel11 wurde sogar die wirtschaftliche Notwendigkeit für einen noch längeren Patentschutz in diesen Bereichen anerkannt.

2. Biotechnologische Erfindungen
Frauenknecht schreibt zu diesem Bereich in seinem Aufsatz: «Ende der 80er-Jahre wurde der Druck der biotechnischen Industrie […] derart gross, dass Mittel und Wege gesucht wurden, um auch «Leben» (lebendes Material genannt) zu patentieren.» Die Patentierung von lebendem Material bzw. von Verfahren betreffend diesen Bereich ist jedoch alles andere als neu und nicht erst durch die rasante Entwicklung der Biotechnologie am Ende des 20. Jahrhunderts aufgekommen12. Bekanntlich schliessen die harmonisierten Europäischen Patentgesetze nicht generell Patente auf lebendes Material aus (vgl. z.B. Art. 53b EPÜ). Die Gesetzessystematik behandelt den Bereich der Patentierung lebenden Materials nicht unter dem Katalog der nicht als Erfindungen angesehenen Gegenstände des Art. 52 EPÜ, sondern in einem gesonderten Artikel 53 EPÜ. Dies zeigt, dass der Gesetzgeber die grundsätzliche Patentierbarkeit lebenden Materials von jeher bejahte, sie jedoch aus anderen, nie vollständig geklärten Gründen einschränkte13. Das vielfach vorgebrachte Argument, dass hiermit ein Doppelschutz durch Sortenschutzabkommen und Patentrecht vermieden werden sollte, greift – wenn überhaupt – nur für Pflanzensorten. Nationale Gerichte haben bereits früh die grundsätzliche Patentierbarkeit lebenden Materials anerkannt14. Zum Zeitpunkt der Entstehung des EPÜ scheiterten viele Patentgesuche betreffend lebenden Materials jedoch an anderen Kriterien wie der nicht zuverlässigen Wiederholbarkeit. Wurde dieses Hindernis, beispielsweise durch die von Anfang an im EPÜ vorgesehene Hinterlegung von biologischem Material (Regel 28 EPÜ) überwunden, war die Patentierung dieses Materials grundsätzlich möglich15. Das Problem der Nacharbeitbarkeit liess aber in der Praxis die Patentierung von lebendem Material in breitem Rahmen nicht zu. Dies könnte als Grund dafür angesehen werden, dass die politischen Entscheidungsträger sich im Rahmen der schwierigen Kompromissfindung bei der Entstehung des EPÜ zur Vermeidung langwieriger Diskussionen auf die Definition des Art. 53b EPÜ verständigt haben. Die Situation änderte sich erheblich, als in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Wissenschaft das Rüstzeug für die moderne Biotechnologie/Gentechnologie entwickelte, durch welches ein technischer und zuverlässig wiederholbarer Weg zu modifiziertem lebendem Material eröffnet wurde. Das Grundlagenpatent von Cohen und Boyer wurde in den USA erst 1980 erteilt16. Bei der Entstehung des EPÜ war diese Entwicklung also nicht absehbar. Frauenknecht schreibt hierzu in seinem Aufsatz, dass diese auch von Frau Kinkeldey vertretene Position «an eine Beleidigung gestandener Wissenschaftler grenze». Er bleibt die – insbesondere im Hinblick auf die vorstehend geschilderten Fakten notwendige – Begründung für diese recht harsche Kritik schuldig.
Die Unsicherheit der Rechtsprechung in diesem Bereich beruht also eher auf einer diese Entwicklung nicht vorhersehenden, unklaren Rechtslage – beispielsweise die durch eine fehlerhafte Übersetzung ins Deutsche noch unklarer gewordene Wortwahl17 im Art. 53b EPÜ – als auf dem Nachgeben eines Drucks der Biotech-Industrie. Die unklare Rechtslage soll mit der EU-Biotechnologierichtlinie18 – welche in die Ausführungsordnung zum EPÜ implementiert wurde (Regel 23 b–e) – beseitigt werden. Erste Früchte hat dies bereits getragen: Die Grosse Beschwerdekammer hat auf der Basis der EU-Biotechnologierichtlinie eine grundlegende Entscheidung (G 1/98) zur Patentierung von Pflanzen getroffen. Weitere Klärung durch die Rechtsprechung ist in den nächsten Jahren zu erwarten. In der Schweiz wird derzeit ein Vernehmlassungsverfahren mit dem Ziel der Anpassung des Schweizerischen Patentgesetzes an die EU-Richtlinie durchgeführt19.
Es sei noch einmal betont, dass das EPA bei der Prüfung von Patentanmeldungen im Biotechnologiesektor Art. 53b EPÜ heranzieht und sich nicht in Widerspruch zu dieser Vorschrift setzt. Diese Vorschrift hat durch die EU-Biotechnologierichtlinie keine Änderung, sondern eine aufgrund des technischen Fortschritts notwendig gewordene Klarstellung hinsichtlich seiner Auslegung erfahren.
Unbestritten ist, dass der Forschung und der Umsetzung ihrer Ergebnisse ethische Grenzen zu setzen sind. Dies ist aber nicht Sache des Patentrechts. Es gibt aus der Sicht des geltenden Patentrechts selbst keinen Grund, lebendes Material anders zu behandeln als beispielsweise Naturstoffe: Es geht jeweils darum, einen in der Natur vorhandenen, der Öffentlichkeit aber noch nicht bekannten Gegenstand, sei es ein Inhaltsstoff einer Pflanze oder ein Gen, dieser für eine neue, meist pharmazeutische Anwendung zur Verfügung zu stellen. Hierfür sollte der Erfinder angemessen mit einem Patent belohnt werden, vorausgesetzt alle weiteren Erfordernisse des Patentrechts sind erfüllt20.
Es ist auch nicht ersichtlich, warum die Patentierung von lebendem Material vom Grundsatz her den guten Sitten im gesamten Vertragsgebiet des EPÜ widersprechen sollte, wie dies für eine Verweigerung eines Patents nach Art. 53a EPÜ erforderlich wäre. Privateigentum an Tieren ist seit jeher in Europa bekannt und wird von der deutlichen Mehrheit der Bevölkerung nicht als Verstoss gegen Moralvorstellungen angesehen.
Zweifellos ist aber der Tatbestand des Art. 53a EPÜ (Berücksichtigung der öffentlichen Ordnung und der guten Sitten) bei der Patentierung zu beachten. Dies betrifft jedoch nicht nur Anmeldungen auf lebendes Material.
Worum geht es bei dem von Frauenknecht beschriebenem «Paradoxon»: Das EPA hat in einem Fall ein Patent auf eine transgene Maus erteilt, in einem anderen Fall jedoch das Patent versagt. In keinem Fall wurde aber die grundsätzliche Patentierbarkeit des fraglichen lebenden Materials verneint. Vielmehr wurde im zweiten Fall ein Verstoss gegen Art. 53a EPÜ festgestellt, da das Lebewesen unter tierquälerischen Umständen lediglich für kosmetische Zwecke manipuliert wurde. Das Beispiel belegt – wenn überhaupt – also nur, dass das EPA Art. 53a EPÜ konsequent beachtet. Ein Paradoxon lässt sich hierbei nicht ausmachen.
Der Begriff der guten Sitten ist einem steten Wandel unterworfen, wie sich auch in der derzeitigen Diskussion über Experimente mit menschlichen Stammzellen zeigt. Dieser Wandel ist bei der Anwendung des Patentrechts angemessen zu berücksichtigen.

3. Softwarepatente und Patente betreffend Geschäftsmethoden
Die Erkenntnis von Frauenknecht, das EPA habe sich in seiner Prüfungspraxis über Jahre hinweg auf den Wortlaut von Art. 52 Abs. 2 lit. c und 52 Abs. 3 EPÜ gestützt, ist zweifellos richtig. Korrekt ist sicher auch die Aussage, dass seit dem Bestehen des europäischen Patentübereinkommens im Bereich von Patenten für «Software» bzw. Geschäftsmethoden – wie in anderen Bereichen auch – eine gewisse Änderung der Praxis stattgefunden hat. Frauenknecht suggeriert aber, die heutige Praxis stünde im Widerspruch zum EPÜ und es sei keine einheitliche Praxis mehr zu erkennen. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass die Änderung der Praxis der Beschwerdekammern in ihrer Konsequenz viel weniger drastisch ist, als von Frauenknecht gezeichnet. Ebensowenig ist zu beobachten, dass sich das EPA «über das Gesetz hinwegsetzt».

a) Grundlage im EPÜ
Gemäss Art. 52 EPÜ werden Patente für Erfindungen erteilt, die neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind.
Die Kontroverse, ob Computerprogramme oder Geschäftsverfahren nun konkret dem Patentschutz zugänglich sind, beruht darauf, dass im EPÜ (wie in vielen anderen Patentgesetzen auch) nicht definiert ist, was unter einer Erfindung zu verstehen ist. Eine Definition erscheint auch nicht zweckdienlich: Es ist nach dem Sinn des Patentrechts gerade geboten, den jeweiligen Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zur Auslegung des vom Gesetzgeber nicht näher begrenzten und auch seinem Wesen nach an sich unbestimmten Begriffs der «Erfindung» heranzuziehen21. Die Diskussion um die Bedeutung des Begriffs «Erfindung» ist keineswegs neu. Bereits Weidlich / Blum22 haben ausgeführt: «Was eine Erfindung ist, sagt weder das Gesetz noch ist es einer der vie-len philosophischen, technischen und juristischen Begriffsbestimmungen gelungen, die ungeheure Vielseitigkeit des Begriffs der Erfindung auch nur einigermassen erschöpfend und allgemein anwendbar zu definieren».
Art. 52 Abs. 2 EPÜ gibt allerdings im Rahmen eines negativen Ausschlusskatalogs an, was insbesondere nicht als Erfindung angesehen wird: darunter finden sich Verfahren für geschäftliche Tätigkeiten sowie Programme für Datenverarbeitungsanlagen. Daraus darf nun aber nicht geschlossen werden, Computerprogramme oder Verfahren für gedankliche Tätigkeiten seien grundsätzlich vom Patentschutz ausgeschlossen. Der Ausschlussgrund nach Art. 52 Abs. 2 EPÜ wird in Art. 52 Abs. 3 EPÜ insofern relativiert, dass Abs. 2 der Patentfähigkeit der in dieser Vorschrift genannten Gegenstände oder Tätigkeiten nur insoweit entgegen steht, als sich die europäische Patentanmeldung oder das europäische Patent auf die genannten Gegenstände oder Tätigkeiten als solche bezieht. Hätte der Gesetzgeber Computerprogramme oder Geschäftsverfahren grundsätzlich vom Patentschutz ausnehmen wollen, hätte es dieser Relativierung nicht bedurft.

b) Entscheidungspraxis des EPA
Es trifft zu, dass in den ersten Jahren die Praxis der Prüfungsabteilung – in Ermangelung von Rechtsprechung – sehr restriktiv war. Man bedenke: Als ab ca. 1980 die ersten europäischen Patentanmeldungen geprüft wurden, hat keine Rechtsprechung bestanden. 1981 sind erste Entscheide der Technischen Beschwerdekammern ergangen. In den ersten Jahren hatten sich aber die Beschwerdekammern nie zu Art. 52 Abs. 2 lit. c EPÜ äussern müssen. Erst in der von Frauenknecht zitierten Vicom-Entscheidung23 (ergangen bereits 1986) wurde die – keineswegs durch den Gesetzeswortlaut gestützte – restriktive Praxis der Prüfungsabteilungen korrigiert. Frauenknecht verweist auf die «Schriftzeichenform»-Entscheidung24 als Beispiel für die Entscheidungspraxis in den ersten Jahren des Bestehens des EPÜ. Diese Entscheidung wurde jedoch erst später, nämlich im Jahr 1989 erlassen. Sie kann daher nicht als Beispiel für die frühere Praxis des EPA dienen.
Verfehlt scheint auch Frauenknechts Verweis auf die Vicom-Entscheidung, wonach «die im Zusammenhang mit Softwarepatenten erfolgte neue Auslegung des technischen Charakters einer Erfindung» fundamental die Einstellung des EPA zu Geschäftsverfahren und Modellen geändert habe. Die Technizität einer Erfindung ist seit jeher ein – allerdings nicht explizit genanntes – Erfordernis für die Patentierbarkeit nach dem EPÜ. Die Vicom-Entscheidung hat als erster Leitentscheid Grundsätze zur Prüfung von «computerbezogenen Erfindungen» definiert.
Hingegen hat sich die Praxis des EPA im Hinblick auf die Vorgehensweise bei der Prüfung auf den «technischen Charakter» im Lauf der letzten 10 Jahre gewandelt. Dies hat jedoch wesentlich geringere praktische Konsequenzen als von Frauenknecht suggeriert.
Bis ca. 1994 wurde bei der Prüfung der «Technizität» zuerst die Erfindung – genauer die Patentansprüche – in «technische» und «nicht technische» Merkmale aufgeteilt: nur wenn die neuen Merkmale technisch waren, wurde die Erfindung als technisch betrachtet. Diese – Contribution approach genannte – Vorgehensweise wurde ein erstes Mal 1994 kritisiert25. In der kürzlich ergangenen «Pension Benefit»-Entscheidung26 wurde festgestellt, dass es für eine solche Vorgehensweise im EPÜ keine Grundlage gibt. Danach ist nach heutiger Praxis zuerst zu prüfen, ob eine Erfindung «insgesamt» technisch ist. Erst anschliessend ist auf die weiteren Patentierbarkeitsvoraussetzungen – namentlich Neuheit und erfinderische Tätigkeit – zu prüfen. Die deutsche Praxis hat, ähnlich dem «contribution approach», in den siebziger und achtziger Jahren, bei der Prüfung auf den «technischen Charakter» eine Differenzierung zwischen bekannten und neuen Merkmalen vorgenommen. Diese – in Deutschland als Kerntheorie bekannte – Praxis wurde durch den BGH ab Mitte der neunziger Jahre aufgegeben27. Daraus nun zu schliessen, nach heutiger Praxis liessen sich Geschäftsverfahren oder Datenverarbeitungsanlagen zum Durchführen von Geschäftsverfahren auch in Europa ohne weiteres patentieren, ist aber weit verfehlt. Ein Verfahrensmerkmal, das die Verwendung technischer Mittel für einen rein nichttechnischen Zweck und/oder zur Verarbeitung rein nichttechnischer Informationen betrifft, verleiht einem solchen Verfahren nicht zwangsläufig technischen Charakter28. Auch eine Vorrichtung bzw. ein körperlicher Gegenstand ist – zumindest nach Praxis des BGH – nicht grundsätzlich nur aufgrund der physischen Beschaffenheit dem Patentschutz zugänglich29. Wenn die Verbesserung, die mit der Erfindung erzielt werden soll, rein wirtschaftlicher Art ist, wird sie in vielen Fällen nicht zur Lösung einer technischen Aufgabe beitragen und daher auch nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruhen.
Frauenknechts – mit Verweis auf das Citibank Patent30 – geäusserte Vermutung, man könnte jeder Geschäftsmethode (aber auch jeder anderen Tätigkeit) eine «Technizität» zuordnen, erscheint vor diesem Hintergrund praxisfremd. Wie liegt der Sachverhalt beim Citibank-Patent: EP 762 394 weist 17 Ansprüche auf, die ein Computersystem betreffen, das per definitionem nicht unter den Ausschluss von Art. 52 Abs. 2 lit. c fallen kann. Auch die Verfahrensansprüche enthalten mit dem Anzeigen/Halten von Daten während einer vorbestimmten Zeitspanne unbestreitbar technische Merkmale. Frauenknechts Kritik basiert auf Überlegungen zum technischen Fortschritt: Er sieht «den technischen Fortschritt» darin, dass Kaufentscheide nicht mehr aufgrund von alten Angaben getroffen werden. Dabei wird übersehen, dass technischer Fortschritt keine Patentierbarkeitsvoraussetzung mehr ist und bei der Prüfung auf Technizität schon gar keine Rolle spielen kann.

c) Konsequenzen von Patentierung von Geschäftsverfahren
Frauenknecht befürchtet, dass Patente zu Geschäftsverfahren «nachhaltig in den gesamten Handlungsspielraum von Firmen» eingreifen, darunter auch solchen im Finanzbereich. Das Verbietungsrecht könne sich von der Logistik über das Bestell- und Abrechnungswesen und den Vertrieb bis zum Produkte- und Betriebsunterhalt erstrecken. Dies mag zutreffen. Wo hier aber der Unterschied zu Patenten für Produktions-, Verarbeitungs- oder Prüfverfahren liegen soll, welche seit jeher erteilt wurden, wird nicht dargelegt. Man bedenke: die Erfordernisse an Neuheit und erfinderische Tätigkeit gelten auch im Bereich von Geschäftsverfahren. Patente betreffend die informatische Implementierung von bekannten Geschäftsverfahren werden regelmässig an mangelnder erfinderischen Tätigkeit scheitern. Alle Marktteilnehmer sind frei, allgemein bekannte Geschäftsverfahren auszuüben. Ausserdem kann sich jeder, der bereits vor dem Anmeldetag eines Patents auf ein solches Geschäftsverfahren dieses Verfahren benutzt hat, unter gewissen Bedingungen auf ein Vor- oder Weiterbenutzungsrecht (Art. 35 PatG, ähnliche Bestimmungen in anderen Ländern, vgl. z.B. §12 dPatG) berufen. Die USA – welche an sich kein Vor- oder Weiterbenutzungsrecht kennen – haben mit dem «American Inventors Protection Act» aus dem Jahr 1999 ein ähnliches Vor- oder Weiterbenutzungsrecht speziell für Patente betreffend Geschäftsverfahren eingeführt (35 USC 273). Demjenigen, der z.B. innovative neue (technische) Vertriebssysteme entwickelt, soll aber die Möglichkeit gegeben werden, seine Innovation zu schützen.

d) Recherchierbarkeit
Ein Hauptproblem sieht Frauenknecht sodann in der Schwierigkeit der Recherche von geschäfts- oder computerbezogenen Erfindungen, da bis heute «keine einschlägigen Datenbanken zur Verfügung stünden». Tatsache ist: im Jahr 1995 wurde die internationale Patentklasse G06F17–60 eingeführt, welche u.a. Datenverarbeitungsverfahren für geschäftliche Zwecke betrifft. Die jährliche Anzahl von Erstveröffentlichungen in dieser Klasse hat bis zum Jahr 2001 auf über 6000 zugenommen. Es wird relativ rasch ein umfassender Bestand an Patentliteratur in diesem Gebiet entstehen. Ausserdem: in diesen Gebieten bestehen genauso wie in anderen Bereichen die Möglichkeiten des Einspruchsverfahrens oder einer Nichtigkeitsklage. In vielen Fällen dürfte die Dokumentation von Marktteilnehmern breiter sein als der Mindestprüfstoff des Patentamtes. Dies wird dazu führen, dass erteilte Patente zu einem gewissen Prozentsatz in Einspruchsverfahren wieder vernichtet werden. Zum Vergleich: Bereits heute werden 5–10 % aller europäischen Patente (in den «klassischen» technischen Gebieten) im Einspruch angegriffen, davon werden ca. 30 % widerrufen und ca. 30 % in geändertem Umfang aufrechterhalten31. Notabene: Gegen die Erteilung des Citibank-Patentes sind mehr als zehn Einsprüche anhängig.
Eine mögliche Überlastung der Patentämter oder Schwierigkeiten bei der Recherche kann kein Argument sein, sich gegen Neuerungen zu sperren. Dies würde an eine willkürliche Verweigerung eines begründeten Rechtsanspruchs auf Patentschutz für bestimmte Wirtschafts- und Personenbereiche grenzen.

Zusammenfassung
Die in Frauenknechts Artikel aufgestellten Hypothesen stehen – bei genauerer Betrachtung – im Widerspruch zu den realen Gegebenheiten. Frauenknecht scheint im Wandel vor allem Bedrohung zu sehen. Er übersieht dabei, dass das Reagieren auf den technischen Wandel im Patentrecht aufgrund der Vermeidung einer Definition für zentrale Begriffe wie den der Erfindung gerade vorgesehen und beabsichtigt ist32.
Wie reagiert Frauenknecht auf die «Bedrohung»? Mit Mitteln, die ein Patentanwalt auch seinen Mandanten in herkömmlichen kompetitiven Gebieten raten würde, nämlich Konkurrenzbeobachtung, unverzügliche Einreichung von Anmeldungen zur Sicherung eines möglichst früheren Zeitrangs und Suchen nach Umgehungslösungen bei erkannter Behinderung.
Derzeit findet kein Paradigmenwechsel im Patentwesen statt, sondern nur eine Anwendung der bestehenden Regelungen auf bestimmte neue Wirtschafts- und Wissenschaftsgebiete innerhalb des bestehenden gesetzlichen Rahmens. In vielen Bereichen werden bisher eingesetzte «manuelle» Verfahren durch technische Methoden ersetzt. Das betrifft beispielsweise das Bank- oder das Versicherungsgewerbe. Im Biotechnologiebereich war aufgrund der technischen Entwicklung in den letzten 20–25 Jahren neben der damit verbundenen erheblichen Zunahme seiner Bedeutung auch die Überwindung von Patentierungshindernissen wie beispielsweise der unzureichenden Wiederholbarkeit zu verzeichnen. In diesen Bereichen gelten damit nun die gleichen Bedingungen betreffend Patentschutz wie in den herkömmlichen technischen Bereichen.
Die vielen Einsprüche gegen das Citibank-Patent sind ein Indiz für diesen Anpassungsprozess. Bezeichnend ist aber auch, dass Citibank mittlerweile über 80 Europäische Patentanmeldungen eingereicht hat. Wie das Beispiel Citibank zeigt, haben zumindest die US-amerikanischen Marktteilnehmer in den aufgrund der Technifizierung neu dem Patentschutz zugänglichen Gebieten die Möglichkeiten einer aktiven Patentpolitik als das erkannt, was sie ist: eine Chance und nicht eine Bedrohung.


Résumé
Les hypothèses évoquées dans l’article de Frauenknecht sont – si l’on y regarde de plus près – en contradiction avec la réalité. Frauenknecht semble avant tout déceler une menace dans le changement. Il méconnaît à ce propos qu’en droit des brevets, la réaction à l’évolution technique a été prévue et même voulue, en ce sens que l’on a précisément évité de définir certaines notions centrales, comme la notion d’invention32.
Comment réagit Frauenknecht face à la «menace»? Il le fait avec des moyens qu’un conseil en brevets aurait proposé à ses mandants dans des domaines compétitifs usuels, notamment par l’observation de la concurrence, la remise sans délai d’une demande de dépôt à l’effet d’assurer une priorité aussi antérieure que possible, et la recherche de solutions permettant de contourner les obstacles.
A l’heure actuelle, il n’existe aucun changement de paradigmes dans le domaine des brevets, mais uniquement une application de la réglementation en vigueur à certains nouveaux domaines économiques et scientifiques à l’intérieur du cadre légal existant. Dans de nombreux domaines, les procédés «manuels» mis en œuvre jusqu’à maintenant sont remplacés par des méthodes techniques. Cela concerne par exemple le secteur des banques et des assurances. Grâce au développement technique de ces 20–25 dernières années, la biotechnologie a gagné en importance, et certains obstacles à la brevetabilité, comme par exemple le manque de «répétabilité» de l’invention, ont pu être contournés. Dans ces domaines, les conditions de brevetabilité sont ainsi les mêmes que celles qui s’appliquent dans les domaines techniques courants.
Les nombreuses oppositions formées contre le brevet «Citibank» constituent un indice de ce processus d’adaptation. Il est également significatif de constater que Citibank a entre-temps déposé plus de 80 demandes de brevet européen. Comme le montre l’exemple Citibank, les personnes actives sur le marché américain dans ces domaines qui sont actuellement devenus accessibles à la protection par le brevet grâce aux progrès de la technique ont reconnu les possibilités offertes par une politique active des brevets: elles constituent une chance et non une menace.



*Dr. rer-nat., Dipl.Chem, Patentanwalt, Hepp Wenger Ryffel AG, Wil.
** Dipl. Ing. Phys. EPFL, Patentanwalt, Hepp Wenger Ryffel AG, Wil.
1A. FRAUENKNECHT, Patente - Quo vadis? sic! 2001, 715 - 722.
2Vgl. hierzu P. KURZ, Die Weltgeschichte des Erfindungsschutzes, Köln 2000.
3F. MEILI, Die Prinzipien des schweizerischen Patengesetzes, Zürich 1988, Hg. INGRES
4Vgl. z.B. hierzu G. MAIER / R. MATTSON, State Street ist kein Ausreisser: Die Geschichte der Softwarepatentierung im US-amerikanischen Recht, GRUR Int. 2001, 677 ff.
5Vgl. z.B. A. KEUKENSCHRIJVER in: R. Busse, fortgeführt und bearbeitet von A. Keukenschrijver et al., Patentgesetz, 5. Aufl., Berlin / New York 1999, Einl., Rn. 23.
6Vgl. z.B. K. HAERTEL in : F.-K. Beier et al. (Hg.), Europäisches Patentübereinkommen, Münchner Gemeinschaftskommentar, Einführung, Köln 1984 ff.
7Stellvertretend für die Intentionen der 68er-Bewergung: R. GERSTER, Patentierte Profite, Basel, 1980
8M. SINGER / D. STAUDER in: M. Singer / D. Stauder (Hg.), Europäisches Patentübereinkommen, 2. Aufl., Köln 2000, 116, Rn. 83.
9K. BRUCHHAUSEN, Der lange Weg zum modernen Patentrecht für chemische Erfindungen, GRUR 1977, 297 - 304.
10Art. 140 PatG; EU-VO 1768/92, Abl. 1992 L 182, 1.
11Art. 140n, PatG; EU-VO 1610/96, Abl. 1996 L 198/30.
12Vgl. z.B. für die Schweiz: R. WEIDLICH / E. BLUM, Das schweizerische Patentrecht, I. Teil, Bern 1934, 84, u.a. mit Verweis auf CH 151202, "Verfahren zum Beeinflussen des Pflanzenwachstums und der Pflanzensaftbildung".
13Vgl. R. MOUFANG in: F.-K.-Beier et al. (Hg.), Europäisches Patentübereinkommen, Münchner Gemeinschaftskommentar, EPÜ 53, N 54 ff.
14Vgl. z.B. BGH, GRUR 1969, 672, "Rote Taube".
15BGH, GRUR 1987, 231, "Tollwutvirus"; T 49/83; T 320/87; T 356/93; G 1/98.
16US-4 237 224 (basierend auf einer Anmeldung aus dem Jahr 1974).
17Der Begriff "animal varieties" bzw. "races animals" wurde biologisch nicht korrekt mit "Tierarten" übersetzt, vgl. auch MOUFANG (Fn. 13), EPÜ 59, N 96.
18Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998, GRUR Int. 1998, 675.
19 
Die Unterlagen sind auf der Homepage des IGE (www.ige.ch) erhältlich.
20 
In diesem Sinne auch R. SCHULTE, Patentgesetz mit EPÜ, 6. Aufl., Köln 2001, §1, Rn. 262.
21Vgl. "Rote Taube" (Fn. 14).
22Vgl. WEIDLICH/BLUM (Fn. 12), 59.
23T 208/84, Abl. EPA 1987, 14.
24T 158/88, Abl. EPA 1991, 566 (auszugsweise)
25T 1002/92, Abl. EPA 1995, 605.
26T 931/95, Abl. 2001, 441.
27Siehe z.B. BGH, GRUR 2000, 1007, "Sprachanalyseeinrichtung".
28Vgl. T931/95 (Fn. 26).
29Vgl. BGH, GRUR 2002, 143, "Suche fehlerhafter Zeichen", unter Klarstellung der früheren Entscheidung "Sprachanalyseeinrichtung" (Fn. 27).
30EP 762 394.
31Jahresbericht EPA 2000.
32Vgl. "Rote Taube" (Fn. 14) und WEIDLICH/BLUM (Fn. 12), 59.


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