sic! 2002 Ausgabe 5
ALESSANDRO L. CELLI* / NICOLAS BIRKHÄUSER**

Die Beurteilung von Vertikalabreden durch die Eidgenössische Wettbewerbskommission

Die Eidgenössische Wettbewerbskommission (WEKO) hat am 19. Februar 2002 eine detaillierte Bekanntmachung über die wettbewerbsrechtliche Beurteilung vertikaler Abreden veröffentlicht. Danach sind insbesondere Abreden, welche die Preissetzungsfreiheit der Händler beschränken und welche den schweizerischen Markt vom Ausland künstlich abschotten immer als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen zu qualifizieren. Zusammen mit der im europäischen Vergleich sehr niedrigen Marktanteilsschwelle von 10%, ab welcher grundsätzlich alle Vertikalabreden als erhebliche Wettbewerbsbeschränkung qualifiziert werden können, führt dies dazu, dass künftig sehr viele Vertikalabreden von der WEKO als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen erklärt werden können.

La Commission fédérale de la concurrence (Comco) a publié le 19 février 2002 une communication détaillée sur l'appréciation des accords verticaux au regard du droit de la concurrence. En particulier, les accords qui limitent la liberté de fixation de prix par les commerçants et qui isolent de manière artificielle le marché suisse de l'étranger sont toujours qualifiés de limitations notables de la concurrence, selon cette communication. Par comparaison avec l'Europe, la fixation à 10% du seuil de part du marché à partir duquel tous les accords verticaux peuvent en principe être considérés comme une limitation notable de la concurrence conduit à ce que de nombreux accords verticaux pourront à l'avenir être déclarés par la Comco comme étant des limitations notables de la concurrence.

I.Allgemeines
II. Begriffe
1. Begriff der Vertikalen Wettbewerbsabreden
2. Begriff der Selektiven Vertriebssysteme
III. Liste von Vertikalabreden, die eine erhebliche Wettbewerbsbeschränkung darstellen
1. Fest- oder Mindestverkaufspreise
2. Beschränkungen des geographischen Absatzgebietes oder des Kundenkreises
3. Beschränkungen des Verkaufs an Endverbraucher
4. Beschränkungen von Querlieferungen innerhalb eines selektiven Vertriebssystems
5. Beschränkungen der Lieferung von Bestand- und Ersatzteilen
 6. Dauer der Wettbewerbsverbote
IV.  Andere Vertikalabreden
V.Rechtfertigungsgründe
1. Kundengruppen, die sich der Lieferant vorbehält
2. Exklusiv zugeordnete Gebiete oder Kundengruppen
3. Einschränkungen von Grossisten
4. Einschränkungen innerhalb eines selektiven Vertriebssystems, an nicht zugelassene Händler weiterzuverkaufen
5. Einschränkungen des Weiterverkaufs von Bestandteilen, die zur Herstellung von Konkurrenzprodukten verwendet werden
VI.Würdigung
Zusammenfassung / Résumé

I. Allgemeines
Die Eidgenössische Wettbewerbskommission (WEKO) hat in ihrer detaillierten Bekanntmachung vom 19. Februar 2002 eine Liste von Abreden veröffentlicht, die als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen qualifiziert werden und als solche bei fehlender Rechtfertigung durch wirtschaftliche Effizienz unzulässig sind. Andere als die auf dieser Liste aufgeführten Abreden betrachtet die WEKO in der Regel als unbeachtliche «Bagatellfälle», wenn die beteiligten Unternehmen auf den relevanten Märkten die Schwelle von 10% nicht überschreiten. Wird dagegen die Schwelle von 10% überschritten, können auch andere als die auf der vorgenannten Liste genannten Abreden einer Prüfung durch die WEKO unterzogen werden und unter Umständen als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen qualifiziert werden. Ziel der WEKO ist, dass «Praktiken von Unternehmen erfasst werden (und unterbunden werden sollen, [Anm. Autoren]), welche den schweizerischen Markt gegen ausländische Märkte abschotten». Im Lichte der überall auftretenden Kritik an der «Preisinsel Schweiz» ist davon auszugehen, dass künftig neben den Vertikalabreden gemäss der oben genannten Liste vor allem solche Abreden von der WEKO untersucht und gegebenenfalls für unzulässig erklärt werden, die für die Abschottung des schweizerischen Marktes und für überhöhte Preise verantwortlich gemacht werden. Es wird nachfolgend dargelegt, welche Folgen die Bekanntmachung der WEKO vom 19. Februar 2002 für die am schweizerischen Markt beteiligten Unternehmen hat. Dabei ist aber zu beachten, dass die vorgenannte Bekanntmachung weder die Rekurskommission für Wettbewerbsfragen noch das Schweizerische Bundesgericht bindet. Beide Instanzen können anders entscheiden, als die WEKO in ihrer Bekanntmachung vorsieht und voraussichtlich selber entscheiden wird.

II. Begriffe
Die WEKO definiert in ihrer Bekanntmachung zwei Begriffe, welche für das Verständnis der nachfolgenden Ausführungen wesentlich sind. Die beiden Definitionen der WEKO lauten:

1. Begriff der Vertikalen Wettbewerbsabreden
Als vertikale Wettbewerbsabreden gelten erzwingbare oder nicht erzwingbare Vereinbarungen sowie aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von zwei oder mehr Unternehmen verschiedener Marktstufen, welche die Geschäftsbedingungen betreffen, zu denen die beteiligten Unternehmen bestimmte Waren oder Dienstleistungen beziehen, verkaufen oder weiterverkaufen können.

2. Begriff der Selektiven Vertriebssysteme
Ein selektives Vertriebssystem liegt vor, wenn zwischen Lieferant und Händler eine Vereinbarung getroffen wird, wonach (i) der Lieferant die Vertragswaren oder -dienstleistungen nur an Händler verkaufen darf, die aufgrund festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und (ii) diese Händler die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler weiterverkaufen dürfen, die nicht zum Vertrieb zugelassen sind. Der Ausdruck «festgelegte Merkmale» in der ersten Voraussetzung (i) des Begriffs des selektiven Vertriebssystems ist zu unbestimmt, um abgegrenzt zu werden. Da für die Annahme eines selektiven Vertriebssystems aber beide Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen, genügt es bereits, wenn die zweite Voraussetzung (ii) eingegrenzt werden kann: Diese zweite Voraussetzung ist nur erfüllt, sofern den zum Vertrieb zugelassenen Händlern untersagt wird, an Händler weiterzuverkaufen, die nicht zum Vertrieb zugelassen sind. – Sind die Händler in ihrer Freiheit, an nicht zugelassene Händler weiterzuverkaufen, nicht eingeschränkt, kann entsprechend nicht von einem selektiven Vertriebssystem gesprochen werden. Dies ist entscheidend für die Qualifizierung gewisser Vertikalabreden als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen (siehe unten die Ziffern III.3) und III.4).

III. Liste von Vertikalabreden, die eine erhebliche Wettbewerbsbeschränkung darstellen
Die Wettbewerbskommission erachtet gemäss ihrer detaillierten Bekanntmachung vertikale Wettbewerbsabreden grundsätzlich als erhebliche Beeinträchtigung des Wettbewerbs im Sinne des Kartellgesetzes, wenn sie namentlich Folgendes zum Gegenstand haben:

1. Fest- oder Mindestverkaufspreise
Die direkte oder indirekte Fixierung von Fest- oder Mindestverkaufspreisen für den Weiterverkauf der bezogenen Waren oder Dienstleistungen durch den Händler gilt als erhebliche Wettbewerbsbeschränkung. Abreden, welche die Preissetzungsfreiheit beschränken, lassen sich kaum rechtfertigen und sollten in jedem Fall vermieden werden. Eine direkte Fixierung von Fest- oder Mindestverkaufspreisen für den Weiterverkauf durch den Händler wäre beispielsweise anzunehmen, wenn ein Lieferant (z.B. Importeur) in seiner Händlerpreisliste verbindlich und womöglich auch unter Androhung von wirtschaftlichen Nachteilen oder von rechtlichen Schritten einen Mindestverkaufspreis festlegte. Als indirekte Fixierung von Fest- oder Mindestverkaufspreisen wäre beispielsweise zu qualifizieren, wenn der Lieferant zwar keine verbindliche Händlerpreisliste herausgäbe und keinen direkten Druck ausübte, jedoch faktisch – auf welchem Wege auch immer; zu denken ist etwa an die Erteilung bedingter Boni und dergleichen – die Händler zum Einhalten einer Preisordnung bewogen würden.

2. Beschränkungen des geographischen Absatzgebietes oder des Kundenkreises
Als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen sind ferner direkte oder indirekte Beschränkungen (i) des geographischen Absatzgebietes oder (ii) des Kundenkreises für den Weiterverkauf durch den Händler zu qualifizieren. Als Beispiel für eine Beschränkung des geographischen Absatzgebietes sei der Lieferant (z.B. Hersteller) genannt, der seinen Händlern in Spanien verbietet, Waren an Kunden in der Schweiz zu verkaufen. Die WEKO spezifiziert nicht weiter, was genau unter «Kunden» zu verstehen ist, mithin ob nur Endverbraucher oder auch wiederum Händler gemeint sind. Im Lichte der Zielsetzung, jedes marktabschottende Verhalten zu verhindern, dürften aber als Kunden die Endverbraucher wie auch die Händler gemeint sein. Gleich zu qualifizieren wäre umgekehrt das Verbot an schweizerische Händler, Waren von spanischen Händlern für den Weiterverkauf in der Schweiz zu erwerben. Vergleiche aber unten den Abschnitt V, der Ausnahmen zu dieser Regelung enthält. Als Beschränkungen des Kundenkreises für den Weiterverkauf durch den Händler wären beispielsweise Beschränkungen zu qualifizieren, welche die Art des Kunden (z.B. Grösse, Preissegment, rechtliche Natur) zum Gegenstand haben und dadurch eine Aufteilung des Marktes zur Folge haben. Zur Frage der direkten oder indirekten Beschränkung sei sinngemäss auf die Ausführungen oben unter Ziffer III.1) verwiesen. Vergleiche aber unten den Abschnitt V, der Ausnahmen zu dieser Regelung enthält.

3. Beschränkungen des Verkaufs an Endverbraucher
Erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen sind auch Beschränkungen des Verkaufs an Endverbraucher, sofern diese Beschränkungen Händlern innerhalb selektiver Vertriebssysteme auferlegt werden. Es ist somit davon auszugehen, dass, solange kein selektives Vertriebssystem im Sinne der vorgenannten Definition der WEKO vorliegt, Beschränkungen des Verkaufs an Endverbraucher nicht grundsätzlich als erhebliche Wettbewerbsbeschränkung betrachtet werden. Vorbehalten bleibt selbstverständlich die «normale» Prüfung, wenn die beteiligten Parteien die Marktanteilsschwelle von 10% überschreiten. Vergleiche ferner unten Ziffer V.4). Fraglich bleibt, was genau unter einer Beschränkung des «Verkaufs an Endverbraucher» zu verstehen ist. Sind darunter Einschränkungen zu verstehen wie beispielsweise: Mindestabnahmeverpflichtungen, Qualitätsanforderungen, Pflicht zur Abnahme der gesamten Produktepalette, Verkaufsverbot von Konkurrenzprodukten? Oder sind es Vertikalabreden lediglich zu Gegenständen wie beispielsweise: Auflagen hinsichtlich Verpackung und Präsentation oder Verpflichtungen hinsichtlich Verkaufsförderung und After-sales Service? – Der Begriff des «Verkaufs an Endverbraucher» bleibt auch nach der detaillierten Bekanntmachung der WEKO offen.

4. Beschränkungen von Querlieferungen innerhalb eines selektiven Vertriebssystems
Beschränkungen von Querlieferungen innerhalb eines selektiven Vertriebssystems zwischen zugelassenen Händlern stellen eine erhebliche Wettbewerbsbeschränkung dar, auch wenn es sich um Händler unterschiedlicher Marktstufen handelt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Hersteller seinen Händlern in Portugal verbietet, Waren an zugelassene schweizerische Händler zu liefern. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Händler im vorgenannten Beispiel auf der selben oder auf unterschiedlichen Marktstufen tätig sind. Vergleiche aber unten Ziffer V.4): Es ist (vorbehaltlich der Prüfung bei Überschreiten der Marktanteilsschwelle von 10%) zulässig, den Weiterverkauf durch Händler, die innerhalb eines selektiven Vertriebssystems zugelassen sind, an nicht zugelassene Händler zu beschränken.

5. Beschränkungen der Lieferung von Bestand- bzw. Ersatzteilen
Beschränkungen, die den Lieferanten (z.B. Importeur) hindern, Bestand- bzw. Ersatzteile an andere (Endverbraucher, Reparaturwerkstätten, etc.) als den an der Abrede beteiligten Händlern zu liefern, stellen erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen dar. Als Beispiel sei genannt, dass sich ein Lieferant zugunsten seiner Vertragshändler dazu verpflichtet, Bestand- bzw. Ersatzteile nicht an andere Händler oder Reparaturwerkstätten zu liefern. Vergleiche aber unten Ziffer V.5).

6. Dauer der Wettbewerbsverbote
Als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen gelten Wettbewerbsverbote, die für eine Dauer von mehr als fünf Jahren oder für mehr als ein Jahr nach Beendigung der vertikalen Wettbewerbsabrede vereinbart werden. Das bedeutet, dass alle Wettbewerbsverbote, ob grundsätzlich zulässig oder nicht, als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen qualifiziert werden, wenn sie für eine Dauer von mehr als fünf Jahren insgesamt oder für mehr als ein Jahr nach Beendigung der vertikalen Wettbewerbsabrede vereinbart werden. Dabei wird es sich meist um Klauseln in Verträgen handeln, wonach im Sinne von Konkurrenzverboten gewisse Tätigkeiten zu unterlassen sind.

IV. Andere Vertikalabreden
Andere Vertikalabreden betrachtet die WEKO in der Regel nicht als erhebliche Wettbewerbsbeschränkung, wenn die von allen beteiligten Unternehmen insgesamt gehaltenen Marktanteile auf keinem der relevanten Märkte die Schwelle von 10% überschreiten. Ausgenommen sind allerdings Fälle, in denen der Wettbewerb auf dem relevanten Markt durch die kumulativen Auswirkungen mehrerer gleichartiger, nebeneinander bestehender vertikaler Vertriebsnetze beschränkt wird, sofern die beteiligten Lieferanten bzw. Händler tatsächlich oder der Möglichkeit nach miteinander im Wettbewerb stehen. In letzterem Fall kann wie beim Überschreiten der Schwelle von 10% des relevanten Marktes eine Untersuchung der Vertikalabrede durch die WEKO und gegebenenfalls die Qualifizierung als erhebliche Wettbewerbsbeschränkung nicht ausgeschlossen werden. Für die Bestimmung des massgeblichen Marktanteils ist der entsprechende Markt in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht abzugrenzen. Je enger also ein Markt abgegrenzt wird, desto eher kommt einem Marktteilnehmer mit Blick auf den Wert von 10% eine wettbewerbsrechtlich bedeutsame Stellung zu. Wird ein Markt hingegen weit definiert, ist der einzelne Marktteilnehmer meist nur einer unter vielen Wettbewerbern, sodass ihm nur ein begrenzter Markteinfluss zugemessen werden kann. Folgende Kriterien sind für die Abgrenzung eines sachlichen Marktes von entscheidender Bedeutung:
Austauschbarkeit der Produkte: Hier stellt sich die Frage, ob die Produkte substituierbar sind. Austauschbarkeit wird in der Regel dann angenommen, wenn die Abnehmer eines Produktes bei verhältnismässig kleinen Preiserhöhungen, wie von rund 5% bis 10%, auf Konkurrenzprodukte oder auf andere Produktarten ausweichen.
Marktgegenseite: Zur Bestimmung der Austauschbarkeit ist vorfrageweise die Marktgegenseite zu definieren. Es kann entscheidend sein, ob hinsichtlich der Austauschbarkeit auf das Verhalten der Abnehmer (z.B. Händler) oder der Endabnehmer (z.B. Konsumenten) abgestellt wird. Im Verhältnis zwischen Hersteller und Händler ist teilweise umstritten, ob der Händler (a) die Marktgegenseite des Herstellers bildet oder aber (b) einfach Absatzmittler des Herstellers ist, sodass die Marktgegenseite nach der zweiten Betrachtungsweise der Endkunde (und nur dieser) wäre. Hier ist anzunehmen, dass die WEKO wahrscheinlich auf den ersten Ansatz abstellen wird, d.h. die Marktgegenseite des Herstellers bildet der Händler und die Marktgegenseite des Händlers bildet der Endkunde.
–  Intrabrand- oder Interbrand-Wettbewerb: Unter Wettbewerb kann man den Wettbewerb zwischen den Vertreibern einer Marke (Intrabrand-Wettbewerb) oder den Wettbewerb zwischen den Vertreibern verschiedener Marken (Interbrand-Wettbewerb) verstehen. Inwieweit der bestehende und/oder potenzielle Interbrand-Wettbewerb auch beim selektiven Vertrieb das wesentliche Kriterium für die Marktabgrenzung sein soll, mithin der Wettbewerb zwischen den Marken bei der sachlichen Marktabgrenzung (mit-)berücksichtigt werden soll, ist umstritten.
Diese entscheidenden Kriterien der Marktabgrenzung werden von der schweizerischen Praxis und Lehre insgesamt sehr unterschiedlich beurteilt. Dies führt dazu, dass teilweise ein weiter, sämtliche Marken eines Produktes umfassender Markt angenommen wird, teilweise dagegen ein enger, eine einzelne Produktmarke umfassender Markt als der wettbewerbsrechtlich relevante Markt betrachtet wird. Insbesondere auch die Gerichtsentscheide seit Einführung des Kartellgesetzes vermochten in dieser Frage keine Klarheit zu schaffen. Unter diesen Umständen ist die Bestimmung des jeweiligen Marktanteiles mit erheblichen Ungewissheiten behaftet. Es ist deshalb bereits bei niedrigen Marktanteilen Vorsicht geboten.

V. Rechtfertigungsgründe
Ergibt sich aufgrund (i) der Liste der Vertikalabreden, die eine erhebliche Wettbewerbsbeschränkung darstellen, oder (ii) des Überschreitens der Schwelle von 10% (bei gleichzeitiger Qualifizierung einer Abrede durch die WEKO als erhebliche Wettbewerbsbeschränkung), dass eine Vertikalabrede als erhebliche Wettbewerbsbeschränkung zu betrachten ist, ist zu prüfen, ob die Abrede durch wirtschaftliche Effizienz zu rechtfertigen ist. Nur – aber immerhin – wenn die Rechtfertigung durch wirtschaftliche Effizienz nicht möglich ist, ist eine Vertikalabrede unzulässig. Ein Rechtfertigungsgrund liegt gemäss Art. 5 Abs. 2 des Kartellgesetzes insbesondere vor, wenn eine Abrede eine effizientere Vertriebsgestaltung, d.h. in der Regel eine Senkung der Kosten, erlaubt und die Wettbewerbsbeeinträchtigung notwendig ist, um dieses Ziel zu erreichen. Die WEKO nennt entgegen dem Wortlaut der Einleitung zu ihrer detaillierten Bekanntmachung keine eigentlichen Gründe von wirtschaftlicher Effizienz. Was die WEKO unter Ziffer 5 ihrer Bekanntmachung aufzählt, sind lediglich Beispiele von Vertikalabreden, die nicht als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen betrachtet werden; es sind Ausnahmen zu den unter Ziffer 3 b der Bekanntmachung genannten erheblichen Wettbewerbsbeschränkungen (vergleiche oben Ziffer III.2). Die WEKO unterlässt es dagegen, Angaben darüber zu machen, unter welchen Umständen Vertikalabreden, die als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen qualifiziert werden, durch wirtschaftliche Effizienz gerechtfertigt sind. Die versprochene Verbesserung der Rechtssicherheit ist deshalb deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Gemäss der Bekanntmachung der WEKO können bei Beschränkungen des geographischen Absatzgebietes oder des Kundenkreises für den Weiterverkauf durch den Händler Vertikalabreden entsprechend «gerechtfertigt» sein, wenn einer der nachfolgenden Fälle zutrifft. Es handelt sich dabei wie erwähnt um Ausnahmen zu Ziffer 3 b der Bekanntmachung der WEKO (vergleiche oben Ziffer III.2):

1. Kundengruppen, die sich der Lieferant vorbehält
Der Lieferant darf sich vorbehalten, gewisse Gebiete oder Kundengruppen selbst zu beliefern. Vorausgesetzt ist, dass es den dadurch eingeschränkten Händlern belassen bleibt, unaufgeforderte Bestellungen individueller Kunden zu erfüllen und dass die Weiterverkäufe durch die Kunden des Händlers nicht ebenfalls begrenzt werden.

2. Exklusiv zugeordnete Gebiete oder Kundengruppen
Der Lieferant darf Gebiete oder Kundengruppen exklusiv einem Händler vertraglich zuordnen. Es steht dem Lieferanten (z.B. Importeur) frei, seinen Händlern zu verbieten, in bzw. mit den exklusiv zugeteilten Gebieten oder Kundengruppen Geschäfte zu tätigen. Vorausgesetzt ist, dass es dem Händler belassen bleibt, unaufgeforderte Bestellungen individueller Kunden zu erfüllen, und dass die Weiterverkäufe durch die Kunden des Händlers nicht ebenfalls begrenzt werden.

3. Einschränkungen von Grossisten
Der Lieferant darf Grossisten in ihrer Freiheit einschränken, direkt an die Endverbraucher zu verkaufen.

4. Einschränkungen innerhalb eines selektiven Vertriebssystems, an nicht zugelassene Händler weiterzuverkaufen
Der Lieferant darf einen innerhalb eines selektiven Vertriebssystems zugelassenen Händler in seiner Freiheit einschränken, die bezogenen Waren oder Dienstleistungen an nicht zugelassene Händler weiterzuverkaufen. Das bedeutet, dass Kriterien aufgestellt werden dürfen, welche Händler (innerhalb eines selektiven Vertriebssystems) zuzulassen sind, und dass den zugelassenen Händlern untersagt werden kann, an nicht zugelassene Händler zu liefern bzw. weiterzuverkaufen. Vergleiche oben Ziffer III.2) bis III.4).

5. Einschränkungen des Weiterverkaufs von Bestandteilen, die zur Herstellung von Konkurrenzprodukten verwendet werden
Ferner ist dem Lieferanten (z.B. Importeur) gestattet, die Händler in ihrer Freiheit einzuschränken, Bestandteile an Dritte weiterzuverkaufen, welche diese Bestandteile zur Herstellung von Konkurrenzprodukten verwenden. Vorausgesetzt ist aber, dass die Bestandteile zur Herstellung von Konkurrenzprodukten verwendet werden. Andernfalls ist es nicht zulässig, Händler vom Bezug von Ersatz- oder Bestandteilen auszuschliessen. Vergleiche aber oben Ziffer III.5).

VI. Würdigung
Es ist festzustellen, dass die detaillierte Bekanntmachung der WEKO die Rechtssicherheit insgesamt nicht erhöht hat. Wie oben dargelegt, hat die WEKO in ihrer Bekanntmachung keine Gründe von wirtschaftlicher Effizienz für die Rechtfertigung von Vertikalabreden genannt. Stattdessen hat sie im Zusammenhang mit der Qualifizierung von Vertikalabreden als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen einige Begriffe ins Spiel gebracht, die weit auszulegen bzw. unklar sind (z.B. der «Verkauf an Endverbraucher» – vergleiche oben Ziffer III.3). Zusammen mit der ausserordentlich tiefen Marktanteilsschwelle von 10% (zum Vergleich: in der EU 30%), über der alle Vertikalabreden erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen sein können, führt die Bekanntmachung der WEKO zu einer erheblichen Unsicherheit auf Seiten der Wirtschaft: Eine Vielzahl von Vertikalabreden sind gemäss der Bekanntmachung der WEKO neu als (potenziell) erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen zu qualifizieren. Gleichzeitig macht die WEKO aber keine Angaben darüber, unter welchen Voraussetzungen qualifizierte Vertikalabreden durch wirtschaftliche Effizienz gerechtfertigt sind. Es bleibt vorderhand keine andere Wahl, als Vertikalabreden nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen und dabei darauf zu achten, dass sie den Wettbewerb nicht beschränken. Solange Vertikalabreden gemäss Art. 5 Abs. 2 des Kartellgesetzes durch wirtschaftliche Effizienz gerechtfertigt werden können, sind sie zulässig. Da letztlich das Kartellgesetz massgebend ist, werden spätestens die Rekurskommission für Wettbewerbsfragen und/oder das Schweizerische Bundesgericht die Prinzipien der Rechtfertigung durch wirtschaftliche Effizienz anwenden und ausführen müssen. Ob und wieweit die WEKO diese Prinzipien einzuhalten bzw. davon abzuweichen gedenkt, ist schwierig abzuschätzen; es wird mit einiger Wahrscheinlichkeit Musterprozesse geben müssen, um die Situation zu klären. Mit Blick auf die EU ist diesbezüglich allerdings festzuhalten, dass das Gelingen des Nachweises der wirtschaftlichen Effizienz schwierig vorauszusagen ist.

Zusammenfassung
Die WEKO hat in ihrer detaillierten Bekanntmachung vom 19. Februar 2002 eine Liste von Vertikalabreden veröffentlicht, die grundsätzlich als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen qualifiziert werden. Diese Liste umfasst Vertikalabreden (i) über Mindest- oder Festpreise, (ii) über die Beschränkung des geographischen Absatzgebietes oder des Kundenkreises, (iii) über die Beschränkung des Verkaufs an Endverbraucher, (iv) über die Beschränkung von Querlieferungen innerhalb eines selektiven Vertriebssystems, (v) über die Beschränkung der Lieferung von Bestand- und Ersatzteilen und (vi) über Wettbewerbsverbote, die für insgesamt mehr als fünf Jahre oder für mehr als ein Jahr nach Beendigung der Abrede vereinbart werden. Diese grundsätzlich als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen qualifizierten Vertikalabreden sind unzulässig, wenn sie nicht durch ihre wirtschaftliche Effizienz gerechtfertigt sind. Andere als die vorgenannten Vertikalabreden sind gemäss der Bekanntmachung unbeachtlich, wenn die von allen beteiligten Unternehmen gehaltenen Marktanteile auf keinem der relevanten Märkte eine Schwelle von 10% überschreiten. Wird die im europäischen Vergleich tiefe Schwelle von 10% dagegen überschritten, können alle Vertikalabreden als erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen qualifiziert und bei fehlender Rechtfertigung durch ihre wirtschaftliche Effizienz für unzulässig erklärt werden. Gemäss der Bekanntmachung der WEKO sind aufgrund dieses niederschwelligen Ansatzes bei der Festlegung der Erheblichkeit eine Vielzahl von Vertikalabreden als potenziell erhebliche Wettbewerbsbeschränkungen zu qualifizieren. Entsprechend wichtig wäre es für die Rechtssicherheit aber gewesen, ein Liste der Effizienzgründe sowie praktikable Kriterien zu deren Ermittlung vorgelegt zu erhalten. Die dagegen von der WEKO aufgezählten Rechtfertigungsgründe stellen lediglich Ausnahmen zu den beiden (als erheblich qualifizierten) Vertikalabreden über die Einschränkung des geographischen Absatzgebietes oder des Kundenkreises dar. Es handelt sich nicht um Rechtfertigungsgründe im Sinne von nachvollziehbaren Effizienzkriterien, die es der Praxis erlauben würden, klare Aussagen über die Zulässigkeit von üblichen Verhaltensweisen im vertikalen Vertrieb zu machen. Es bleibt daher zu hoffen, dass die Rechtsprechung insbesondere der Rekurskommission für Wettbewerbsfragen und des Schweizerischen Bundesgerichts diese für die Marktteilnehmer wichtige Frage bald beantworten wird.

Résumé
La Comco a donné dans sa communication du 19 février 2002 une liste d’accords verticaux qui sont qualifiés comme étant en principe des limitations notables de la concurrence. Cette liste comprend les accords verticaux (I) instaurant des prix minima ou fixes, (II) limitant le territoire de vente ou la clientèle, (III) limitant la vente au consommateur final, (IV) limitant les livraisons croisées à l’intérieur d’un système de distribution sélectif, (V) limitant la livraison de pièces de rechange et (VI) comportant une interdiction de concurrence pour un total de plus de cinq ans ou pour plus d’un an après la fin de l’accord. De tels accords verticaux, qualifiés en principe de limitation notable de la concurrence, sont illicites s’ils ne sont pas justifiés par des motifs d’efficacité économique. Selon cette communication, en outre, ne restreignent pas la concurrence de manière notable les accords verticaux pour lesquels les parts de marché détenues par toutes les entreprises concernées ne dépassent pas le seuil de 10% sur les marchés pertinents. Par contre, si le seuil de 10% (peu élevé en comparaison avec l’Europe) est dépassé, tous les accords verticaux peuvent être qualifiés comme étant des restrictions notables de la concurrence et peuvent être interdits s’ils ne sont pas justifiés par des motifs d’efficacité économique. Il résulte de cette communication de la Comco et en particulier de ce seuil peu élevé en termes de parts de marché que de nombreux accords verticaux doivent être potentiellement qualifiés comme étant des limitations notables de la concurrence. Pour des raisons de sécurité juridique, il aurait été judicieux de disposer d’une liste des motifs d’efficacité économique, ou de critères praticables pour les définir. A l’opposé, les motifs justificatifs indiqués par la Comco ne constituent que des exceptions aux deux restrictions verticales (qualifiées d’importantes) sur la limitation du territoire de vente ou de la clientèle. Il ne s’agit pas de motifs justificatifs dans le sens de critères d’efficacité économique qui permettraient de définir pratiquement quels sont les comportements usuels admissibles en matière d’accords verticaux. Il reste donc à espérer que la jurisprudence, en particulier de la Commission de recours et du Tribunal fédéral, répondra bientôt à cette question importante pour les acteurs du marché.



*  Dr. iur., Rechtsanwalt, Zürich.
** Rechtsanwalt, Zürich.

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