sic! 2003 Ausgabe 7+8
Mischa Charles Senn

"Ticino - Turismo". Entscheid der SLK vom 25. März 2003

UWG 2, 3; SLK-Grundsatz 3.5.2. Das Gebot der Vollständigkeit ist das Pendant zum Verbot der Irreführung. Dieses Gebot will eine Irreführung bzw. eine Irreführungsgefahr verhindern, indem statuiert wird, dass bei einer Werbeaussage keine verfälschende Hinzufügungen oder Weglassungen von Angaben zugelassen werden dürfen (E. 4a). Das Gebot der Vollständigkeit verlangt aber nicht, dass allgemein bekannte Tatsachen in der Werbung aufgeführt werden müssen, über die der massgebende Durchschnittskonsument im Bilde ist (E. 4b). So ist nicht erforderlich, dass nebst den positiven gleich noch sämtliche negativen Eigenschaften anzugeben sind. Es muss genügen, dass die wesentlichen Eigenschaften Erwähnung finden, damit der Gesamteindruck keine Verfälschung erfährt, denn erst dieser ist ausschlaggebend (E. 4c).

Art. 2, 3 LCD; Règle CSL 3.5.2. L'exigence de l'intégralité est le pendant de l'interdiction de la tromperie. Cette exigence a pour objectif d'empêcher la tromperie, ou un risque de tromperie, en ce sens que des informations ne doivent ni être omises ni être ajoutées, lorsqu'elles sont fallacieuses, dans une assertion publicitaire (consid. 4a). L'exigence de l'intégralité ne prescrit toutefois pas que des faits d'ordre général, connus du consommateur moyen déterminant, soient mentionnés dans la publicité (consid. 4e). Ainsi n'est-il pas nécessaire, en sus de propriétés positives, de mentionner l'existence de toutes les propriétés négatives. Il suffit que les propriétés essentielles soient indiquées de telle façon que l'impression d'ensemble ne soit pas faussée, car c'est uniquement celle-ci qui est déterminante (consid. 4c).

Die Beschwerdeführerin rügt diverse Aussagen in verschiedenen Werbekatalogen des Tessiner Verkehrsvereins, die ihrer Ansicht nach wegen fehlender Übereinstimmung zwischen Anpreisungen und realer Gegebenheit täuschend bzw. irreführend seien. So täusche der Katalog u.a. mit Aufnahmen von idyllischen Ausschnitten ein ungetrübtes, zeitloses Ferienparadies vor. Verschwiegen werde dabei aber u.a. die (den Kanton) beherrschende Verkehrssituation und die notorische Umweltverschmutzung. Damit würden im Katalog Tatsachen unterdrückt, die nach den Erwartungen des Lesers aber gesagt werden müssten.
Die Beschwerdegegnerin (Ticino Turismo) hält dem im Wesentlichen entgegen, dass der aufmerksame Leser kaum zum Schluss komme, im Tessin bestünden nur idyllische Gebiete. Abgesehen davon werde an verschiedenen Stellen auf die realen Situationen hingewiesen, sodass nur schon deshalb keine Täuschung entstehen könne. Weiter wird ausgeführt, das eine Werbeaussage nicht schon deshalb irreführend sei, wenn sie nicht alle möglichen negativen Eigenschaften erwähne.

Aus den Erwägungen:
1.a) Die Beschwerdegegnerin macht die Einrede der Unzuständigkeit der SLK zur Behandlung der Beschwerde, da die Beschwerdegegnerin nicht Mitglied der Kommission sei.

b) Gemäss Art. 11 Abs. 1 des Geschäftsreglements der SLK (SLK-GR) beurteilt die Kommission solche Fälle, die in deren Regelungsbereich fallen (M. C. Senn, Das Verfahren vor des Schweizerischen Lauterkeitskommission, sic! 1999, 697-702, 698). Sie befasst sich also mit Fällen auf dem Gebiet des Lauterkeitsrechts, das sich einerseits nach den eigenen Normen (Internationale Richtlinien und Grundsätze), andererseits nach dem geltenden schweizerischen lauterkeitsrechtlichen Bestimmungen (insbesondere jene des UWG) richten (A. Brunner, Aktuelle Praxis der Schweizerischen Lauterkeitskommission, in: C. J. Meier-Schatz [Hg.], Neue Entwicklungen des UWG in der Praxis, Bern 2002, 167, bzw. A. Brunner, Zur Praxis der Schweizerischen Lauterkeitskommission, recht, 2001, 1-10, 1; Senn, 697). Eine Mitgliedschaft der einen oder anderen Partei ist für die Durchführung eines Verfahrens demnach nicht notwendig. Hingegen ist es den Beschwerdegegnern freigestellt, sich auf das Verfahren einzulassen; eine Pflicht hierzu besteht schon wegen des privatrechtlichen Charakters der Kommission (bzw. der Trägerin: die Stiftung für die Lauterkeit in der kommerziellen Kommunikation) nicht (vgl. dazu Brunner, Aktuelle Praxis, 169 und 172; Senn, 697 f.). Entsprechend ihrem Status als private Selbstkontrollinstitution ohne staatliche Durchsetzungsbefugnis kann die SLK denn auch keine Gestaltungs- oder Leistungsurteile aussprechen; sie hat sich vielmehr auf die gemäss Art. 20 SLK-GR erwähnten Sanktionen zu beschränken, worin immerhin u.a. die Möglichkeit eines Feststellungsurteils eingeschlossen ist (vgl. zum Ganzen Brunner, Aktuelle Praxis, 169 und 177 f.; Senn, 699). Lässt sich eine Beschwerdegegnerin nicht auf das Verfahren ein, wird aufgrund der Akten entschieden (Art. 17 Abs. 4 SLK-GR).

2.a) Die Beschwerdegegnerin beantragt des Weiteren, das Verfahren in italienischer Sprache durchzuführen.

b) Das Verfahren wird in jener schweizerischen Amtssprache durchgeführt, in der die Werbung kommuniziert wird (Art. 13 Abs. 1 SLK-GR). Gemäss ständiger Praxis der SLK gilt bei mehrsprachigen Kampagnen oder Versionen des Werbemittels diejenige als Verhandlungssprache, in der die Beanstandung gehalten ist (vgl. Brunner, 173). Die fragliche Werbung erschien in verschiedenen Sprachen, auch in Deutsch, weshalb die Beschwerdeführerin ihre Eingabe zu Recht auf Deutsch abfasste. Dass die Beschwerdeführerin gelegentlich auf italienische Titel Bezug nimmt, ändert daran nichts. Die Verhandlungssprache Deutsch ist somit zu Recht gewählt worden.

3.a) Die Beschwerdeführerin macht sinngemäss geltend, dass die Werbung unvollständig sei, da sie nicht auf die negativen Eigenschaften des «Produkts» (nämlich der Kanton Tessin als Anbieter von Ferien und Erholung) hinweise. Deshalb sei die Werbung irreführend bzw. täuschend. Sie macht explizit eine Verletzung des SLK-GS Nr. 3.5.2 geltend und beruft sich zudem auf den SLK-GS Nr. 1.8.

b) Soweit der SLK-GS Nr. 3.5.2 beansprucht wird, ist zwar zutreffend, dass dieser die Irreführung betrifft, doch handelt es sich systematisch gesehen um einen Untertatbestand der vergleichenden Werbung des Grundsatzes Nr. 3.5 (vgl. dazu SLKE vom 9. Januar 2002, sic! 2002, 393 E. 2.a «Bester Empfang. Höchste Tonqualität», m. w. H.). Allerdings kann dieser Untertatbestand auch selbstständig für die irreführende Werbung als solche herangezogen werden. Für die Irreführung sind zudem die allgemeinen Kriterien zum Spezialtatbestand von Art. 3 lit. b UWG massgebend, da die SLK keine Konkretisierung der Irreführung mittels eines selbstständigen Grundsatzes aufgestellt hat.

4.a) Das Verbot der Irreführung bestimmt das UWG als eines der Grundprinzipien in verschiedenen Bestimmungen, so beispielsweise in den Art. 2, 3 lit. b und 3 lit. i (vgl. C. Baudenbacher, Lauterkeitsrecht, Basel 2001, UWG 2 N 43; M. M. Pedrazzini/F. A. Pedrazzini, Unlauterer Wettbewerb / UWG, 2. Aufl., Bern 2002, Rz. 6.01 ff.; L. David, Schweizerisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl., Bern 1997, Rn. 181 ff.; L. David/M. A. Reutter, Schweizerisches Werberecht, Zürich 2001, 60; M. Schwenninger/Manuel Senn/ A. Thalmann [Hg. L. David], Werberecht. Kommentierte Textausgabe, Zürich 1999, 43 f.; M. Streuli-Youssef, SIWR V/I, Basel 1998, 83 f.; H. O. Marti/P. Widmer/Ph. Probst, Recht in Marketing und Kommunikation, 3. Aufl., Zürich 2003, 149 f.; BGE 114 II 106). Das Irreführungsverbot hat sein Pendant im Klarheitsgebot und wird ergänzt durch das Gebot der Nachvollziehbarkeit, welches die Überprüfbarkeit der Aussage durch das massgebende Zielpublikum bedingt. Weiter kann das Gebot der Vollständigkeit eine Irreführung bzw. eine Irreführungsgefahr (vgl. Baudenbacher, UWG 3 lit. b N 64) verhindern, indem bei der Aussage keine verfälschende Hinzufügungen oder Weglassungen von Angaben zulässig sind (vgl. dazu SLKE vom 9. Januar 2002, sic! 2002, 393 E. 2.b, «Bester Empfang. Höchste Tonqualität», m. w. H.). Ausgehend von diesen Kriterien zum Irreführungsverbot können die nachfolgenden Feststellungen getroffen werden.

b) Das Gebot der Vollständigkeit verlangt nicht, dass allgemeine Tatsachen in der Werbung aufgeführt werden müssen. Dieser Grundsatz geht sogar soweit, dass Werbung mit Selbstverständlichkeiten nicht zulässig sein kann (vgl. SLK-GS Nr. 3.6). Abgesehen von der praktischen Unmöglichkeit einer Auflistung allgemein bekannter Tatsachen ist vom massgebenden Durchschnittskonsumenten, der bekanntlich durchschnittlich informiert, aufmerksam und verständig ist (vgl. SLKE vom 9. Januar 2002, sic! 2002, 393 E. 3, «Bester Empfang. Höchste Tonqualität»), ohne weiteres zu erwarten, dass er über die allgemeine (Umwelt-) Situation im Tessin im Bilde ist. Das jedenfalls dann, wenn er sich mit der Planung eines Ferienaufenthalts in dieser Region befasst, zumal er nicht davon ausgehen kann, dass ausgerechnet diese Region von den Nachteilen unserer Epoche verschont worden wäre. Die Nicht-Nennung solcher Tatsachen stellt damit noch keine Irreführung dar.

c) Das Gebot auf Vollständigkeit muss dem Einzelfall gerecht zu werden, ist also relativ zu betrachten, und kann auch hier nicht bedeuten, dass nebst den positiven gleich noch sämtliche negativen Eigenschaften aufzulisten sind. Es muss genügen, dass die wesentlichen Eigenschaften Erwähnung finden, damit der Gesamteindruck keine Verfälschung erfährt, denn erst dieser ist massgebend.
Im vorliegenden Fall wurde das berücksichtigt: Es werden sehr wohl auch negative Seiten des Tourismus erwähnt, und entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin nicht «bewusst verschwiegen». Die Rede in den Werbekatalogen ist nämlich u.a. auch von Autobahnen, was für den Durchschnittsabnehmer gleichzeitig bedeuten muss, dass das mit Immissionen verbunden ist. Das heisst auf der anderen Seite aber nicht, dass es dem Anbieter damit untersagt wäre, die von Verkehrsimmissionen doch weitgehend verschonten Naturschönheiten zu beschreiben. Zudem ist auch allgemein bekannt, dass für das Erreichen der entlegenen Regionen bzw. Naturgebiete die modernen Verkehrsmittel eine Bedingung sind.
Problematisch wäre es beispielsweise erst dann, wenn im Prospekt versprochen würde, es bestünde ein generelles Fahrverbot, dieses in Wirklichkeit aber missachtet wird. Die Anforderungen im Werbebereich sind im Übrigen nicht mit jenen im Reiserecht zu vergleichen, wo eine Pflicht zum Hinweis auf wesentliche negative Umstände bei der individuellen Destination (z.B. Hotelumgebung) besteht.

d) Man könnte im Übrigen auch nicht sagen, dass ein Verschweigen an sich eine Unwahrheit darstellen würde, solange die Angaben vom Gesamteindruck her nicht erwartet werden und in Übereinstimmung mit dem Vollständigkeitsgebot der Kontext transparent ist (Marti/Widmer/Probst, 149 f.). Das ist vorliegend beispielsweise der Fall mit den «idyllischen» Orten gleich wenige Kilometer neben der Autobahn. Dass dabei der Erholungswert sehr gering sein kann, dürfte nachvollziehbar sein. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass ein Naturschutzgebiet, von dem üblicherweise eine Erholungsfunktion erwartet wird, selbst zwischen den Flugpisten angesiedelt wurde (Flughafen Zürich).
Insgesamt ist festzustellen, dass die Beschreibungen in den Werbekatalogen im Gesamteindruck für den massgebenden Durchschnittskonsumenten keine Irreführung bzw. Irreführungsgefahr darstellen. Die Werbung hat die erforderliche nachvollziehbare Klarheit und Vollständigkeit, weshalb sie nicht als unlauter qualifiziert werden kann. Soweit sich die Beschwerdeführerin über die Qualität der Dienstleistungen des Ticino Turismo-Büros beschwert, hat sich die SLK darüber nicht zu äussern. Aufgrund dieser Erwägungen ist die Beschwerde vollumfänglich abzuweisen.



I. Kammer der SLK, mitgeteilt von Prof. Dr. iur. M.C. Senn, Vizepräsident der SLK.


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